Samstag, 29. Januar 2022

Tag 679 und eine dritte Dame der deutschen Literatur (III)

Gisela Elsner: Ebenso unterschätzt wie Gabriele Wohmann und Renate Rasp.

Zwei Jahre vor Beginn des 2. Weltkriegs geboren, nahm sie ab 1962 an den Tagungen der Gruppe 47 teil. 1992 nahm sie sich in München das Leben. Ihr Sohn ist Oskar Roehler, der die letzten Jahre des Lebens seiner Mutter verfilmt hat, mit der großartigen Hannelore Elsner in der Titelrolle: "Die Unberührbare". Acht Romane schrieb sie, ihr erster war "Die Riesenzwerge". Der selige Joachim Kaiser schrieb damals, Mitte der 60er Jahre,  in der SZ:

H. besitzt nur diese vier Bücher von ihr: "Die Riesenzwerge" (1964), "Der Nachwuchs" (1968) und "Heilig Blut" und das "Das Berührungsverbot".
Die beiden letzteren Werke wurden im Verbrecher Verlag herausgegeben, von Christine Künzel, die jedoch 2021 die Herausgeberschaft einstellte (?).

Der BR widmete Gisela Elsner einen sehr schönen Beitrag. 2012 war die BRD um eine starke Stimme ärmer geworden.

Elfriede Jelinek würdigte ihre Freundin 2021 anlässlich der Verleihung des Gisela-Elsner-Literaturpreies der Stadt Nürnberg:

"'Eine Frau springt aus einem Fenster. Die Luft war ihr kein Gegner mehr, man konnte sie mit dem eigenen Körper durchschneiden, wie ein heißes Messer (das Gisela war) die Butter durchschneidet. Oder, so hat es begonnen: Alles, was sie umgab, ja, auch die Luft, war ihr Gegner. Vor lauter Gegnern sieht man die Freunde nicht mehr, die sich ohnedies schon lang nicht mehr versammelt haben. Gisela Elsner hat mich als ihre Freundin bezeichnet, worauf ich stolz bin, doch ich habe mich nicht bewährt. Nicht bewehrt war diese Frau gegen die Luft, die zu einer Art Gallerte geworden war, nicht mehr zu durchdringen, jeder Millimeter Luft nur mehr unter Einsatz des eigenen Körpers, wenn man sich in diesen zähen Brei überhaupt hineinwagt. Dann ist es, wie in Aspik zu schwimmen, denn wenn alle Gegner geworden sind, dann ist da niemand mehr, den man noch angreifen kann. Nachdem man selber schon alles, was einen umgibt, in der Hand gehabt, angesehen und verworfen hat, dann ist man selbst verworfen, so wie der Computer einen fragt, ob man einen Text behalten oder verwerfen möchte. Gisela wollte ihre Texte den Menschen vorwerfen, und sie hat geschrieben, was sie den Menschen vorzuwerfen hatte. Als sie es dann bekamen, schienen sie es nicht zu wollen. Sie haben es nie gewollt. Zartfühlig, wie sie es waren, zeigten sie sich überaus erleichtert darüber, daß man es ihnen nicht zumutete, den Vertilgungen (von Ungeziefer, das die Menschen sind, weil man sie so behandelt hat, weil man sie getötet hat, bis ihnen die mit Giftpulver vermengte Luft in den Vertilgungsräumen den Atem nahm) beizuwohnen. Diese Stelle ist ein ins leichter Zumutbare abgewandeltes Zitat aus Giselas Roman „Otto der Großaktionär“. Spurlos wie totes Ungeziefer sollen Menschen also verschwinden und sind auch verschwunden. Man kann nichts andres sagen, aber man sagt ja immer was, ununterbrochen, sodaß man im Grunde nichts mehr sagt. Spurlos wird Gisela Elsner jetzt nicht mehr verschwinden können, denn es ist ein Literaturpreis ihr gewidmet, der den Gewinner, die Gewinnerin zumindest für eine Weile nicht verschwinden lassen wird, sondern hervorhebt. Das freut mich sehr für meine verstorbene Freundin Gisela Elsner. Und für die kommenden Preisträgerinnen und Preisträger. Ich gratuliere. Sie sollen ein Leben haben und diesen schönen Preis dazu, der sie an eine Schriftstellerin erinnern soll, die nicht verschwinden darf.'

Elfriede Jelinek"

Natascha Wodin bekam den Preis. Eine gute Wahl.

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