Der Feind ist die höchste Steigerungsform des anderen, des
Antipoden, des Gegners, des Gegenübers, des von mir selbst
Unterschiedenen, des Negativen. Den Feind kennen wir vor allem aus der
politischen und militärischen Sprache – er ist tatsächlich der
unbedingte Gegner, und der Krieg ist wohl jene Form, die Feindschaft auf
die Spitze treibt, weil sie die Zerstörung der anderen Seite zum Ziel
hat und als Ausnahmefall gelten muss – selbst wenn man konzediert, dass
es in der Weltgesellschaft so gut wie keine Phase gab und gibt, in der
kein Krieg herrschte.
Der Feind als unbedingter Gegner ist zumindest in der öffentlichen
Sprache des Politischen bis vor kurzem abhandengekommen. Man hat von
Systemkonkurrenz gesprochen, selbst im Kalten Krieg wurde die andere
Seite selten als Feind bezeichnet, wenn sie auch ganz offensichtlich die
feindliche Seite war – und eben »kalt«, also durch Dialog, stabile
Konfliktformen und wechselseitige Berechenbarkeit kaschiert wurde (von
den »Stellvertreterkriege« genannten Auseinandersetzungen in anderen
Weltregionen abgesehen). Spätestens mit der Auflösung des sogenannten
Ostblocks ist der Feind tatsächlich abhandengekommen – nicht der
Konkurrent, nicht der andere, nicht etwas zu Unterscheidendes, aber doch
der Feind in seiner unbedingten Form.
Und mit der Auflösung des klassischen Ost-West-Gegensatzes ist
zumindest im globalen Norden der Eindruck entstanden, dass ökonomische,
kulturelle, mediale und auch reiseförmige Kooperationen Gegensätze, wenn
nicht abgeschafft, so doch entdramatisiert haben. Das Zeitalter der
Globalisierung sollte alle auf Augenhöhe bringen, soziologisch wurde der
Kosmopolitismus und politisch und ökonomisch Wandel durch Handel
ausgerufen. Und das war sicher nicht ganz falsch gedacht, denn schon die
digitalen Medien haben die Perspektiven einerseits zusammenrücken
lassen, andererseits aber auch auf vielfältigere Differenzen
hingewiesen. Jedenfalls war diese Erfahrung, in der man sich zwar nicht
wirklich einrichten konnte, weil sie viel unübersichtlicher war,
durchaus positiv besetzt und hatte zumindest bei aller Differenz- und
Konkurrenzerfahrung wenigstens latent impliziert, dass sich radikale
Feindschaften womöglich überwinden ließen. Die »Eine Welt«, von der
soziale Bewegungen in den 1970ern träumten, war noch lange nicht am
Horizont, aber kurz dahinter.
Dass all das aber voreilig und ein allzu beschönigendes Bild gewesen
sein könnte, ist nicht erst seit dem 24. Februar 2022 klar, sondern gibt
auch Ereignissen Aufmerksamkeit, die diese zuvor nicht bekamen: die
Annexion der Krim 2014, aber auch die expansiven Kriege an den Rändern
Russlands. Überlagert wurde das auch durch eine andere Form von
Feindschaft, die als Antipoden den islamistischen Terrorismus wahrnahm,
der sich zum Teil der klassischen Form verfeindeter Staaten entzog (aber
in den Reaktionsformen sich dann doch auf Staaten richtete, wie die
Erfahrungen in Afghanistan und im Irak zeigen).
Lange Rede, kurze Konsequenz: Die Frage nach dem Feind und der
Feindschaft ist kriegsförmig wieder auf der Tagesordnung – und das
letztlich notgedrungen. Das Denken in Freund-Feind-Schemata tritt auf
die Tagesordnung zurück, mit all seinen Untiefen, seinen Risiken, seinen
normativen Implikationen und seinen Konsequenzen. Und es ist nicht der
Krieg, der das Ergebnis des Freund-Feind-Schemas ist, sondern dieses ist
eine unvermeidliche Konsequenz des Krieges vor unserer Haustür – was im
Übrigen darauf verweist, wie sehr aufmerksamkeitsökonomische Fragen
auch durch räumliche Nähe und Ferne bestimmt werden.
Ein Kursbuch über die Unterscheidung von Freunden und Feinden zu
machen liegt also nahe. Die Beiträge beziehen sich durchaus auch auf die
Konsequenzen des russischen Krieges gegen die Ukraine, aber nicht nur.
Constanze Stelzenmüller stellt die gegenwärtigen Ereignisse in einen
systematischen Zusammenhang mit Denklücken sicherheitspolitischer
Überlegungen und Überzeugungen, die durch den russischen Angriff über
den Haufen geworfen worden sind, und Herfried Münkler untersucht die
historische und kategoriale Genese des Freund-Feind-Antagonismus.
Einen ganz anderen Zugang wählt der Biologe Josef H. Reichholf, der
sowohl die Natur selbst als Feind im Blick hat, aber auch »feindliche«
Antagonismen in der Natur in den Blick nimmt. Das biologische Wesen
Mensch gehört in diese Reihe – und trotz allem formuliert Reichholf in
einer positiven Grundstimmung: »Ob die Menschheit zur kosmischen
Katastrophe wird und damit die Menschenzeit, das Anthropozän,
erdgeschichtlich charakterisiert, sei dahingestellt. Warnende Anzeichen
gibt es genug. Den Menschen als ›sapiens‹ zu bezeichnen, war voreilig.
Aber möglich ist es, dass die Trennung von Freund und Feind
überwunden, die Menschheit friedlicher und in ihrer Einwirkung auf den
großen Rest der Natur moderater wird. Das ist zugegebenermaßen (m)ein
›biologischer Optimismus‹.«
Der Psychoanalytiker Timo Storck befasst sich mit inneren Bildern,
die sich selbst unheimlich werden können und bisweilen antagonistisch
geraten. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht die Feinde Angst machen,
sondern die Angst Feinde. Mein eigener Beitrag geht von einer
Dreierkonstellation aus: vom vertrauten Antagonismus von Freund und
Feind auf der einen Seite und dem Fremden auf der anderen.
In unserem Gespräch mit dem israelisch-deutschen Soziologen Natan
Sznaider geht es um innere und äußere Antagonismen in Israel und auch
darum, warum »der Jude« als die geradezu klassische Figur des inneren
Feindes gelten kann. Sznaider macht sehr deutlich, wie sehr sich die
Freund-Feind-Logik innerhalb und gegenüber Israel mit geostrategischen
Veränderungen der Welt verschiebt.
Wir haben wieder Intermezzi gesammelt, und zwar zu der Frage: Wer ist
Ihr Lieblingsfeind? Acht Autorinnen und Autoren geben dazu sehr
unterschiedliche Antworten, nämlich Helene Bubrowski, Marco Herack,
Nicole C. Karafyllis, Sven Murmann, Ulv Philipper, Haya Shulman, Peter
Unfried und Michael Waidner.
Die Lagerfeuer, die Heike Littger diesmal durch Freundes- und
Feindesland geführt haben, führen nach Gelnhausen, irgendwo nach
Deutschland und Erding. Und Jan Schwochows Grafiken zeigen, wie
unterschiedlich man unterschiedliche Formen der Hilfe für die Ukraine
darstellen kann und welche Rankings dabei vergleichend herauskommen,
wenn man die absoluten Zahlen mit Einwohnerzahlen oder
Bruttoinlandsprodukt in Verbindung bringt. So rutscht dann zum Beispiel
Estland in einem Fall vom 20. auf den ersten Platz.
Eine besondere Freude ist wieder das Islandtief von Berit Glanz,
inzwischen das siebte. Diesmal geht es um die Bestimmung von
Naturphänomenen durch Apps – und das nicht nur unter dem technischen
oder dem taxonomischen Aspekt, sondern auch im Hinblick darauf, wie die
Ergebnisse solcher Naturbeobachtung dazu beitragen können, ein
Bewusstsein für besondere, für gefährdete oder für besonders
interessante Formen aus der Natur zu entwickeln. Dass die Beobachtung in
Island mit der Nordlichtbeobachtung beginnt (damit aber noch lange
nicht endet), versteht sich fast von selbst.
© Armin Nassehi, Editorial Kursbuch 214 »Freund und Feind«
(Von der Homepage des Kursbuchs)