Montag, 6. Juni 2022

Tag 807 mit Corona (Tag 103 des Kriegs) und die Schulleiterfreundin meldet sich wieder: Beitrag 21

Lieber Hauptschulblues!
Jetzt sind Ferien und ich habe Zeit, einmal ein Résumé zu ziehen.

Die Coronazahlen sinken und sinken. Erleichterung ist nicht angebracht. Im Herbst werden die Zahlen wieder steigen. In den Schulen werden wieder  regelmäßige Testungen notwendig sein. 

Überhaupt herrscht in der Schule eine merkwürdige Stimmung. Spätfolgen der Pandemie? 
Die Krankmeldungen haben erstaunlicherweise kaum abgenommen. Manche Kinder scheinen ein Dauerunwohlsein zu verspüren. Spätestens um 9 Uhr wollen die ersten Schüler bereits wieder heim. Die Sekretärin ruft dann die Eltern an. Keine Überredungskunst kann etwas ändern. Die meisten Erwachsenen nehmen das hin. So stehen bis ca. 25 Schüler am Ende jeden Vormittags zusätzlich auf der Krankenliste. Nachmittagsunterricht wirkt besonders abschreckend. Egal was es ist. Manche Eltern fragen sogar nach, ob man nicht wieder den Distanzunterricht wählen könne ( ist halt momentan konfliktfreier mit dem Sprössling). Kann man natürlich nicht. 
In der Coronahochphase hatte dieser nach vielen Anlaufschwierigkeiten und je nach persönlichem Engagement von Schülern, Eltern, Lehrern und Schule so einigermaßen hingehauen. Obendrein hatte nicht jede Familie die technischen Voraussetzungen dazu. Erst jetzt werden Schwächen offenbar. 
Viele Schüler sind einfach schon mit Stillsitzen, längeren Arbeitsphasen, den Anforderungen und womöglich noch Hausaufgaben nicht gewachsen. Die Konzentration hält nur kurzfristig. Moderne Unterrichtsformen bauen auf Eigenständigkeit. Das gestaltet sich dann extrem zäh, kräftezehrend und zeitaufwändig. Dieses Phänomen zeigt sich bis hoch in die Abschlussklassen. 
Quer durch alle Klassenstufen stieg auch die Quote der Schulschwänzer. Hartnäckig widersetzen sie sich allen Maßnahmen. Selbst erfolgreich erprobte Institutionen wie "Zweite Chance" tun sich sehr schwer. Bußgeldbescheide etc. werden oft bis zu schwerwiegenderen Maßnahmen einfach ignoriert. Es herrschen allgemein Hilflosigkeit und Verdrängung.
Ähnliche Verhaltensweisen wie bei Langzeitarbeitslosen werden sichtbar. Kinder berichten, dass sie sehr schwer am Morgen in die Gänge kommen - eigentlich erst gegen Mittag, viele daddeln unaufhörlich auf ihren Smartphones herum oder beschäftigen sich bis spät in die Nacht mit Computerspielen. Dies führt dann zu Schlafstörungen. 
Von den Grundschulen kommen extrem schlechte Leser, der Erstleseprozess wurde nicht abgeschlossen und das sinnentnehmende Lesen wird nie gelingen. Es werden viele funktionale Analphabeten ins Leben entlassen werden. Tendenz steigend. 
Die Schulen sind den lauernden Anforderungen kaum gewachsen. Besonders auf die Pflichtschulen, die sowieso schon mit einem Problempool zu kämpfen haben und ständig Schüler*innen von sämtlichen anderen Schularten auffangen müssen, kommt nun noch ein eklatanter Lehrermangel dazu. Dies führt dazu, dass eigentlich gerade noch die Pflichtstunden erteilt werden können. Bei einer Lehrererkrankung fällt letztlich viel einfach aus. Förderstunden, AGs, ... gibt es nicht mehr und lassen sich auch nicht mehr aus den Rippen schneiden. 
Den Lehrermangel sollen nun Quereinsteiger auffangen, also beispielsweise studierte Soziologen. Diese werden im Schnellverfahren ins Klassenzimmer geschleust. Nach zwei Jahren haben sie die Hürden geschafft und sind vollwertige Lehrer*innen. Sämtliche Augen und Hühneraugen werden bei der Eignungsüberprüfung oft zugedeckt. 
Natürlich brauchen wir diese Leute dringend. Parallel dazu steigt die Missbilligung der regulären Lehrkräfte, die nach jahrelanger Ausbildung den jungen Quereinsteiger*innen gleichgestellt werden. Zudem wird erwartet, dass sie eine kollegiale Betreuungsfunktion übernehmen. Das ist auch bitter notwendig.
Auch die Aufnahme von arbeitslosen Gymnasial- und Realschullehrer*innen brachte keine Erleichterung. Diese streben natürlich jede Chance an in ihren erlernten, viel besser bezahlten, relativ unproblematischeren Zweig zurückzukehren. Kann man das verdenken? 
Wir arbeiten seit vielen Jahren mit Ehrenamtlichen. Dieser Markt ist natürlich seit Corona komplett eingebrochen. So langsam melden sich wieder einzelne Menschen, die Spaß an der Förderung junger Menschen haben. Sie lesen in Kleingruppen mit den Jugendlichen, nutzen dabei unsere Schülerbücherei oder betreiben "English Conversation". Auch für Mathematik finden sich Interessenten. Auf die englische Unterhaltung gab es sogar einen Schüleransturm. Eine kleine Erleichterung? Sicherlich. Trotzdem muss man sich fragen: Kann ehrenamtliche Tätigkeit eine Basis von Schule sein und Unterricht womöglich noch ersetzen? Sollten dort nicht gut und in unserem Mittelschulbereich besonders gut ausgebildete Fachkräfte sein?
Können dadurch die schleichend steigenden Mängel aufgefangen werden? Wie lange werden die Unzulänglichkeiten unter den Tisch gekehrt werden? Vor allem: Wie lange kann man sich das als Industrienation überhaupt leisten? Kann man dann noch, wie gewohnt, der Basis die Verantwortung zuschieben nach dem Motto " faule Säcke" (Schröder)? Der Ton und die Forderungen in den Lehrergewerkschaften werden jedenfalls lauter und schärfer. Hoffentlich hört man endlich genau hin.

8 Kommentare:

  1. hilfe mir wird ganz schlecht beim lesen und denken. ich kann mir nicht mehr vorstellen wie wir als land aus diesem dilemma rauskommen sollen: zuwenig fachkräfte, zu wenige lehrende, z.t. marode schulen und krankenhäuser, brücken, straßen, eltern ohne gefühlten erziehungsauftrag treffen auf selbstgezogene kinder mit "angewachsener" elektronik und ohne konzentration auf fremde inhalte. jeder/jede schaut auf
    andere gruppe. wo sind die vorbilder für kinder? was leben sie vor? eigentlich weiß man, am nachhaltigsten lernt jeder durch vorbild und erfahrung. überall gibt es menschen die am rande ihres limits arbeiten. und andere machen pläne, lassen gutachten erstellen, bauen bürokratie auf und lähmen weiter.

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  2. Das ist schon heftig, was die Schulleiterfreundin schreibt. Danke, daß sie hier Raum bekommt. Ich bin sehr interessiert an den Schilderungen. Die Verhältnisse hier scheinen mir noch einige Grade desaströser zu sein.

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  3. Dabei leben wir doch in der besten aller möglichen Welten hier in Deutschland. Wird einem zumindest immer wieder gesagt. Das wird nicht mehr lange so bleiben, wenn ein grosser Teil der Schüler derart demotiviert ist bzw. allein gelassen von den Eltern, die das alles durchgehen lassen. Ist das eine Münchner Schule oder irgendwo sonst in Bayern? Solche Berichte höre ich von Berlin. Auch, dass man dort die Kinder lieber in eine Privatschule gibt.

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    1. Da die Schulleiterfreundin anonym bleiben möchte, kann ich nur sagen, dass es eine bayerische Schule ist.

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  4. Leider betreffen die Probleme wohl jede Mittelschule und ähnliche Formen in ganz Deutschland. Das kann man mittlerweile regelmäßig in den Medien lesen. Wenn wir ehrlich sind, ist jede Lehrkraft in einer anderen Schulart ziemlich erleichtert, wenn sie das so nicht in dieser Form erleben muss, auch wenn dort ein Vorzeigeautist sitzt. Es sind Wahlschulen. Ich bin wohlgemerkt nicht gegen Inklusion und Elternwille (ich will nicht in diese Ecke gedrängt werden, da würde man es sich zu einfach machen), aber auch hier stand der notwendige finanzielle und personelle Aspekt dem Wunschgedanken eines friedlichen, menschlichen Mit- und Füreinander gegenüber. Die Problematik wurde hinlänglich diskutiert, geändert hat sich nichts. Im Großen und Ganzen hat man sich arrangiert. Das Gefüge ist eben fragil. Der Lehrberuf an Mittelschulen scheint jungen Menschen nicht als erstrebenswert. Gründe gibt es viele und die angeblich große Freizeit und die vielen Ferien ziehen nicht mehr. Besonders drastisch ist das in Großstädten, wo die Lebenshaltungskosten obendrein sehr hoch sind. Es ist müßig sich darüber Gedanken zu machen, ob in der beschaulichen eigenen Kleinstadt auch "solche Zustände" herrschen. Großer Respekt für all diese Lehrkräfte, für die Lehren und Erziehen noch eine Berufung ist, die sich für ihre Schüler*innen sehr engagiert einsetzen um ihnen eine Zukunft zu ermöglichen. Viele Schulämter und Schulleiter haben diese Entwicklung auch schon erkannt und versuchen das Möglichste herauszuholen.

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  5. Ich werde in meinem Blog Fontanefan auf diesen Beitrag verlinken und wenn ich Zeit und Energie habe kommentieren. (Nach 14 Tagen schwerer Erkältung) Bei Aufforderung lösche ich dort aber auch.

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    1. Sie dürfen immer verlinken - es musss auch nichts gelöscht werden. Gute Besserung! Wir Alten müssen auf uns achten ...

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  6. Klimawandel, Digitale Transformation, COVID-19 und der russische Überfall auf die Ukraine sind jeweils Brenngläser, die strukturelle Defizite einer Wohlfühl- & Wellnessgesellschaft offenbaren, obwohl wir - global gesehen - in "der besten aller möglichen Welten" leben (Monika zitiert in ihrem Kommentar G.W. Leibniz) [1].

    [1] mehr dazu hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_beste_aller_möglichen_Welten

    Leibniz lehrt in seiner metaphysischen Monadologie [2], dass alles mit allem zusammenhängt. So ist das auch in der Beschreibung des Artikels über die Schule, sowie mancher Kommentare dazu.

    [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Monadologie

    Diese Schule im 21. Jahrhundert gelangt unter den beschriebenen Brenngläsern betrachtet an ihre Grenzen bzw. an ihr Ende. Ein Ende der Militär- und Industriegesellschaft-Schule des 19. Jahrhunderts.

    Statt zu klagen, sollten wir aufbrechen! - Dazu bedarf es der Vernetzung wie im #twitterlehrerzimmer, um von ermunternden Best Practice Beispielen zu erfahren.
    Dass die Kinder / Jugendlichen so sind wie sie sind, hat m.E. auch mit einer tiefen Sinnkrise zu tun. Warum etwas tun und lernen, wenn die Welt ohnehin bald in der Klimakatastrophe untergeht?!
    Mir kommt - wieder mal - der brasilianische Reformpädagoge Paulo Freire (1921-1997) mit seiner "conscientização" in den Sinn. Es geht um kritisch-politische Bewusstseinsbildung bei Alphabetisierungskampagnen in Favelas, also Armutsvierteln. Könnten wir in den herunter gekommenen Schulen nicht auch eine Art Neu-Alphabetisierung durchführen? - Dabei gibt es nach Freire "Schüler-Lehrer" und "Lehrer-Schüler". Ausgangspunkt sind immer die Probleme der Slumbewohner, kein externer Lehrplan. Die Probleme ließ Freire mit Fotos / Dias einfangen (z.B. fehlende Kanalisation), um dann bei der Alphabetisierung Begriffe und Sachverhalte zu erschließen. Das trug zur politischen Partizipation der Favela-Bewohner*innen bei und befähigte sie politisch aktiv zu werden, um "ihre" (strukturellen) Missstände zu abzumildern oder gar zu beseitigen.

    Wofür brennt jedes einzelne Kind? Was ist jedem einzelnen Jugendlichen wichtig? - DAS muss zum Ausgangspunkt der "Pädagogik der Unterdrückten"[3] werden!

    [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Paulo_Freire#Pädagogik_der_Unterdrückten
    Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit (= rororo, Band 6830: rororo-sachbuch, Erziehung und Unterricht), Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1973, ISBN 3-499-16830-8.
    Erziehung als Praxis der Freiheit. Kreuz-Verlag, Stuttgart 1974, ISBN 3-7831-0442-4.

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