Donnerstag, 11. August 2022

Tag 871 mit Corona (Tag 167 des Krieges) und Mittagessen in Berliner Grundschulen

Der öfter schon erwähnte Prof. Dr. Stefan Sell veröffentlicht fundierte Beiträge zur Sozialpolitik. Hier geht es um weggeworfenes Essen. 

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Gut gemeint, aber …? Das kostenlose Mittagessen in Berliner Grundschulen


Vor über drei Jahren konnte man hier in dem Beitrag Gut gemeint muss man dann auch machen (können). Ein Grunddilemma der Sozialpolitik am Beispiel des kostenfreien Schulessens in Berlin vom 19. Mai 2019 lesen: »Ein Grunddilemma in der Sozialpolitik ist … die immer wieder zu beobachtende Lücke zwischen dem Versprechen einer Verbesserung und den Niederungen der Umsetzung in der Wirklichkeit. Da werden gut gemeinte Ansätze, die zu einer Verbesserung der Lebenslage führen sollen und können, beschlossen und natürlich auch als Erfolg gegenüber den Menschen verkauft – bis dann ans Tageslicht kommt, dass die Realisierung auf sich warten lässt, dass zahlreiche praktische Hindernisse einer Umsetzung der Versprechen entgegen stehen.«

Damals ging es um »eine an sich gute Tat in Berlin: Ab dem Sommer 2019 sollen Familien nicht mehr für das Schulessen in Klasse 1 bis 6 zahlen müssen. Auf den ersten Blick kann man einer solchen Maßnahme nur zustimmen, wenn man weiß, dass es tatsächlich viele Kinder gibt, die es ausbaden müssen, dass ihre Eltern auch kleine Zuzahlungen nicht leisten können, aber auch nicht selten nicht zahlen wollen. Im Interesse der Kinder macht es Sinn, allen unabhängig von solchen Widrigkeiten ein Schulessen zu ermöglichen.« Und um praktische Umsetzungsprobleme wie fehlende Räumlichkeiten in den Schulen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Aber bereits 2019 wurde diese Befürchtung vorgetragen: »Die Kostenfreiheit für das Schulessen wirft … noch eine weitere Frage auf, nämlich die, wie künftig verhindert werden soll, dass vermehrt Essen weggeworfen wird – nach dem Motto: Was nichts kostet, ist nichts wert. Aus den ersten Schulen ist bereits diese Befürchtung zu hören. „Eltern werden das Essen dann einfach für alle Fälle bestellen, auch wenn ihr Kind nur selten in der Schule essen wird“, heißt es.«

„Im Durchschnitt kann man sagen, dass 25 Prozent der von uns gekochten Schülermittagessen direkt entsorgt werden“

Springen wir in die Gegenwart. Die Befürchtungen sind offenbar Realität geworden: »In den Berliner Grundschulen werden während des Schulbetriebs offenbar täglich tonnenweise Lebensmittel weggeschmissen. Caterer berichten, dass ein beträchtlicher Teil der Schülermittagessen jeden Tag unangerührt in der Mülltonne landet. Seit dem 1. August 2019 zahlt das Land die Mahlzeiten. Die Eltern bestellen zwar Mahlzeiten, aber viele Kinder holen sie nicht ab. Seit der Kostenfreiheit ist dieser Anteil größer geworden«, kann man diesem Artikel von Eva Corina entnehmen: Verschwendung: Warum landet jedes vierte Berliner Schulessen im Müll? Für den Steuerzahler ist das eine teure Angelegenheit. Eine parlamentarische Anfrage im Berliner Abgeordnetenhaus hat ergeben, »dass das Land Berlin für das kostenlose Mittagessen 2021 rund 112 Millionen Euro ausgegeben hat. 2022 – so die Prognose – sollen es sogar rund 177 Millionen Euro sein.«


Eva Corino zitiert ein Beispiel aus der Berliner Schulwelt, dem man einige Hinweise entnehmen kann, was da passiert: »Am Anfang des Schuljahres seien die Kinder noch ziemlich zuverlässig und holten die bestellten Essen auch ab, sagt Maria Girrbach-Heger, die die Essensausgabe im Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster beaufsichtigt. „Aber am Schuljahresende ist es dann so, dass von 130 angelieferten Mahlzeiten täglich etwa 50 nicht abgeholt werden. Weil die Kinder dann lieber in die Pause gehen, um zu spielen.“ Fast alle Eltern der Schule haben ihre Kinder bei dem kostenlosen Mittagessen angemeldet, berichtet Girrbach-Heger. Dabei haben sie wohl zwei Optionen: Entweder sie bestellen durch oder sie schauen sich mit ihrem Kind den Speiseplan an und ordern nur bestimmte Gerichte. Der Vertrag, den sie mit dem Caterer schließen, verpflichtet sie, ihre Kinder vom Essen abzumelden, wenn diese zum Beispiel krank sind. Dennoch gibt es eine wachsende Anzahl von Eltern, die dieser Verpflichtung nicht nachkommen.«

Das hat erhebliche Folgen: „Es gibt Tage, da liefern wir 400 Essen an eine Schule und müssen 200 Essen wieder mitnehmen,“ wird Klaus Kühne, der Geschäftsführer des Catering-Unternehmens 3 Köche, das täglich 20.000 Mittagessen an Berlins Grundschulen liefert, in dem Corino-Artikel zitiert. Die Essensdisziplin der Kinder schwankt, weil die Nicht-Inanspruchnahme des kostenfreien Mittagessens unterschiedliche Gründe hat oder haben kann. „Aber im Durchschnitt kann man sagen, dass 25 Prozent der von uns gekochten Schülermittagessen direkt entsorgt werden,“ so Klaus Kühne.

25 Prozent von 112 Millionen Euro, das macht 30,5 Millionen Euro an Steuergeld, die 2021 sozusagen direkt in der Mülltonne gelandet sind. In diesem Jahr wären es mindestens 44 Millionen Euro, die versenkt werden.

Die Tafel kriegt nichts, die Schweine bekommen auch nichts, der Rest landet in einer Biogasanlage

Klaus Kühne, der Geschäftsführer des Catering-Unternehmens 3 Köche, würde die vielen übrig gebliebenen Mittagessen »gerne bei der Tafel vorbeibringen, aber das dürfe er nicht, weil die Hygienevorschriften in Deutschland so streng seien. „Ein frisch gekochtes Essen darf nur drei Stunden bei 65 Grad warm gehalten und die Wärmeketten dürfen nicht unterbrochen werden, sonst könnte das Essen schon verdorben sein“ … Deshalb müssen die übrig gebliebenen Speisen sehr schnell entsorgt werden. Es handelt sich um etwa 1200 Kilogramm täglich, die direkt in die Biogasanlage wandern. „Zu DDR-Zeiten haben wir damit die Schweine gefüttert. Aber das ist heute auch nicht mehr erlaubt, aus Angst vor Seuchen“.«

➔ Um was für ein Essen handelt es sich? »Inzwischen hat Berlin höhere Standards als andere Bundesländer, die den Caterern vorschreiben, mindestens 60 Prozent Bio-Lebensmittel zu verwenden. Um Preis- und Qualitätsdumping zu verhindern, zahlen die Bezirke einen Einheitspries von 4,39 Euro pro Essen.« Maria Girrbach-Heger vom Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster, die das Essen regelmäßig probiert, wird mit dem Satz zitiert: „Das ist gutes Kantinenessen und durchaus kindgerecht.“ Aber: In Berlin liegt der Preis seit August 2021 für ein Schulessen bei 4,36 Euro und ist eigentlich noch bis Ende Juli 2024 festgelegt. Anbietern von Schul- und Kitaessen in Berlin und Brandenburg fällt es angesichts der Inflation immer schwerer, wirtschaftlich zu arbeiten. „Die Einkaufspreise sind in den vergangenen Monaten um 20 bis 35 Prozent gestiegen. Das war beim Abschluss der Ausschreibungen überhaupt nicht vorhersehbar gewesen“, wird Ralf Blauert, Vorsitzender des Verbands Deutscher Schul- und Kitacaterer, in diesem Artikel zitiert: Anbieter von Schul- und Kitaessen wollen Preise nachverhandeln.

Offiziell liegt die Essensbeteiligung der Schüler in den letzten drei Jahren bei neunzig Prozent. Aber wenn die Aussagen der Caterer zutreffen, liegt die tatsächliche Essensbeteiligung nur bei 65 Prozent – und damit kaum höher als in Zeiten, als das Mittagessen noch kostenpflichtig war.

Und machen Land und die in Berlin zuständigen Bezirke was?

Eva Corino berichtet seitens des Landes von diesen Absichten: In die Rechtsverordnung soll wohl ein Passus aufgenommen werden, der es den Caterern ermöglicht, Kinder vorübergehend vom Essen auszuschließen, wenn sie pro Monat mehr als acht Gerichte nicht abgeholt haben. Außerdem planen die Bezirke die Einführung eines digitalen Abrechnungssystems. »Leider dauert dieser Planungszustand schon ziemlich lange an.« Rolf Hoppe, der Geschäftsführer von Luna-Catering, wird mit Worten zitiert, die uns wieder einmal daran erinnern, auf welchem Niveau mittlerweile in diesem Land an so vielen Stellen herumgewerkelt bzw. Aktivität simuliert wird, denn er weist darauf hin, »dass die Bezirke schon vor zwei Jahren versprochen hatten, ein digitales Abrechnungssystem zur Verfügung zu stellen. Weil es fehlt, behelfen sich die Caterer – wenn überhaupt – mit Klassenlisten. Dabei wird aber nur geprüft, ob die Kinder berechtigt sind, ein Mittagessen zu erhalten, und nicht, wer mal wieder versäumt hat, es abzuholen.«

Susanne Vieth-Entus berichtet unter der Überschrift Mehr Kontrollen wegen Verschwendung bei Schulessen in Berlin: »Seit die Verpflegung an Grundschulen kostenlos ist, häufen sich Beschwerden über übriggebliebene Portionen. Eine Verordnung soll das nun ändern.« Was genau soll passieren?

»In der neuen Verordnung steht: „Holt die Schülerin oder der Schüler ein bestelltes Mittagessen an mehr als acht Tagen eines Monats unentschuldigt nicht ab, hat der Essensanbieter die Schule und die Erziehungsberechtigten hierüber zu informieren.“ Die Schule soll dann „im Gespräch mit der Schülerin oder dem Schüler und den Erziehungsberechtigten darauf hinwirken, dass das bestellte Mittagessen abgeholt wird“. Wenn der Mensabesuch ausbleibt und die Anzahl des unentschuldigt nicht abgeholten Mittagessens „in zwei aufeinanderfolgenden Monaten jeweils acht Fälle beträgt“, soll der Essensanbieter „im Einvernehmen mit der Schulleiterin oder dem Schulleiter den Mittagessensvertrag zum Ende des laufenden Monats kündigen“.«

So reagiert Verwaltung (auf der Basis dessen, was man immer schon so gemacht hat) – aber wird das wirklich etwas ändern?

Es wird ja durchaus davon berichtet, dass die Inanspruchnahme der Mittagessen zwischen den Grundschulen teilweise erheblich streut: »Wenn die Lehrkräfte oder die Erzieher mit den Kindern zusammen äßen, sei die Teilnahme besser. Auch die Räumlichkeiten spielten eine Rolle und inwieweit die Schüler infolge zu kleiner Mensen gezwungen sind, schnell und in Unruhe zu essen, weil zu viele Kinder „durchgeschleust“ werden müssen, berichten Schulleitungen.«

Auf dieser Ebene anzusetzen, scheint nachhaltiger zu sein, wenn man das Ziel hat, die offensichtliche Verschwendung von Lebensmitteln zu beenden bzw. diese zumindest deutlich zu reduzieren. Hier geht es dann auch um die Frage, wie (weit) man institutionelles Leben kollektiv, also gemeinsam organisiert (oder eben die Individuen laufen lässt mit allen damit verbundenen Schereneffekten).

Aber auch die Frage nach der Verantwortung der Eltern darf und muss gestellt werden – das ist keineswegs übergriffig, sondern berührt Grundsatzfragen, denen man gerne ausweicht, die aber deshalb nicht verschwinden: Wie weit geht man bei der Versorgung und Hilfestellung, räumt man – koste es was es wolle – alle Hindernisse beiseite und entfernt alle Signale, was da eigentlich gemacht und finanziert wird und welchen Wert das hat? Provoziert man vielleicht – sicher völlig unbeabsichtigt – eine Konstellation, in der die eine Seite ihre guten Absichten zum Ausdruck bringen kann, auf der anderen Seite aber immer mehr Menschen auf Einbahnstraßen-Empfänger-Rollen reduziert werden, in der man sich durchaus auch einrichten kann?

1 Kommentar:

  1. In Bayern müssen die Eltern normalerweise für die Mahlzeiten der Ganztagsschule zahlen.
    An unserer Schule beläuft sich das um die 5.-€ (subventioniert) pro Mahlzeit. Für sozial schwach gestellte Familien werden die Kosten vom Jobcenter ganz übernommen. Das betrifft somit einen Großteil der Kinder. Der Antrag dafür ist mehrmals im Jahr zu stellen. Das klappt nur mit Erinnerungsanruf aus der Schule. Generell stellt man sich das Bezahlen der Mahlzeiten mit Einzugsermächtigung als nicht so schwierig vor. Tatsächlich gestaltet sich das als arbeitsintensiv. Es gibt Eltern, die das nicht auf die Reihe bekommen und womöglich auch nicht wollen. Kinder geben der Schulsekretärin Kleinstbeträge von 5€ in unregelmäßigen Zeiträumen bar ab, andere zahlen gar nicht.
    Wie soll die Schule darauf reagieren - Teller weg?
    Schriftlich wurden die Eltern darauf aufmerksam gemacht, dass im Krankheitsfall die Eltern das Kind für die Krankheitsdauer vom Essen abmelden können und dann natürlich nicht zahlen müssen.
    Auch das klappt in der Regel nicht. Ein Großteil der Eltern kann sich schwer in der deutschen Sprache verständlich machen, man ruft daher auch lieber nicht an. Die Schule ruft an und erkundigt sich nach dem Wohlbefinden des Kindes. Diese Tendenz hat sich in Coronazeiten noch verstärkt und nimmt einen beträchtlichen Teil des Vormittags ein. Natürlich muss bei der Essensauswahl auf die kulturellen und religiösen Gepflogenheiten Rücksicht genommen werden. So gibt es zwei Menüs zur Auswahl (mehr Auswahl würde wiederum den Preis nach oben treiben). Schweinefleischfrei und vegetarisch.
    Ich denke mehr Fürsorge ist nicht mehr möglich ohne die Eltern komplett aus ihren Pflichten zu entlassen.
    Auch bei uns werden Mahlzeiten entsorgt, z.B. weil die Speisen ungewohnt sind, weil man lieber spielen möchte, ... Viele der im Artikel genannten Probleme und Fakten sind uns auch wohlbekannt. "Kostenlos" bedeutet in einer von Geld dominierten Gesellschaft eben tatsächlich "nichts wert". Dies betrifft ebenso alle anderen gut gemeinten Angebote, z. B. Frühstück, Nachhilfe...
    So werden auch weiterhin Schüler ohne Frühstück hungrig bis in den Nachmittag in Schulen herumsitzen.

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