Freitag, 2. Juni 2023

3 Jahre 67 Tage mit Corona, 1 Jahr und 96 Tage Krieg und: Freund & Feind

Seit ein paar Tagen gibt es das neue Kursbuch.


Hier der Leitartikel von Armin Nassehi.

Kursbuch 214 – Editorial

Der Feind ist die höchste Steigerungsform des anderen, des Antipoden, des Gegners, des Gegenübers, des von mir selbst Unterschiedenen, des Negativen. Den Feind kennen wir vor allem aus der politischen und militärischen Sprache – er ist tatsächlich der unbedingte Gegner, und der Krieg ist wohl jene Form, die Feindschaft auf die Spitze treibt, weil sie die Zerstörung der anderen Seite zum Ziel hat und als Ausnahmefall gelten muss – selbst wenn man konzediert, dass es in der Weltgesellschaft so gut wie keine Phase gab und gibt, in der kein Krieg herrschte.

Der Feind als unbedingter Gegner ist zumindest in der öffentlichen Sprache des Politischen bis vor kurzem abhandengekommen. Man hat von Systemkonkurrenz gesprochen, selbst im Kalten Krieg wurde die andere Seite selten als Feind bezeichnet, wenn sie auch ganz offensichtlich die feindliche Seite war – und eben »kalt«, also durch Dialog, stabile Konfliktformen und wechselseitige Berechenbarkeit kaschiert wurde (von den »Stellvertreterkriege« genannten Auseinandersetzungen in anderen Weltregionen abgesehen). Spätestens mit der Auflösung des sogenannten Ostblocks ist der Feind tatsächlich abhandengekommen – nicht der Konkurrent, nicht der andere, nicht etwas zu Unterscheidendes, aber doch der Feind in seiner unbedingten Form.

Und mit der Auflösung des klassischen Ost-West-Gegensatzes ist zumindest im globalen Norden der Eindruck entstanden, dass ökonomische, kulturelle, mediale und auch reiseförmige Kooperationen Gegensätze, wenn nicht abgeschafft, so doch entdramatisiert haben. Das Zeitalter der Globalisierung sollte alle auf Augenhöhe bringen, soziologisch wurde der Kosmopolitismus und politisch und ökonomisch Wandel durch Handel ausgerufen. Und das war sicher nicht ganz falsch gedacht, denn schon die digitalen Medien haben die Perspektiven einerseits zusammenrücken lassen, andererseits aber auch auf vielfältigere Differenzen hingewiesen. Jedenfalls war diese Erfahrung, in der man sich zwar nicht wirklich einrichten konnte, weil sie viel unübersichtlicher war, durchaus positiv besetzt und hatte zumindest bei aller Differenz- und Konkurrenzerfahrung wenigstens latent impliziert, dass sich radikale Feindschaften womöglich überwinden ließen. Die »Eine Welt«, von der soziale Bewegungen in den 1970ern träumten, war noch lange nicht am Horizont, aber kurz dahinter.

Dass all das aber voreilig und ein allzu beschönigendes Bild gewesen sein könnte, ist nicht erst seit dem 24. Februar 2022 klar, sondern gibt auch Ereignissen Aufmerksamkeit, die diese zuvor nicht bekamen: die Annexion der Krim 2014, aber auch die expansiven Kriege an den Rändern Russlands. Überlagert wurde das auch durch eine andere Form von Feindschaft, die als Antipoden den islamistischen Terrorismus wahrnahm, der sich zum Teil der klassischen Form verfeindeter Staaten entzog (aber in den Reaktionsformen sich dann doch auf Staaten richtete, wie die Erfahrungen in Afghanistan und im Irak zeigen).

Lange Rede, kurze Konsequenz: Die Frage nach dem Feind und der Feindschaft ist kriegsförmig wieder auf der Tagesordnung – und das letztlich notgedrungen. Das Denken in Freund-Feind-Schemata tritt auf die Tagesordnung zurück, mit all seinen Untiefen, seinen Risiken, seinen normativen Implikationen und seinen Konsequenzen. Und es ist nicht der Krieg, der das Ergebnis des Freund-Feind-Schemas ist, sondern dieses ist eine unvermeidliche Konsequenz des Krieges vor unserer Haustür – was im Übrigen darauf verweist, wie sehr aufmerksamkeitsökonomische Fragen auch durch räumliche Nähe und Ferne bestimmt werden.

Ein Kursbuch über die Unterscheidung von Freunden und Feinden zu machen liegt also nahe. Die Beiträge beziehen sich durchaus auch auf die Konsequenzen des russischen Krieges gegen die Ukraine, aber nicht nur. Constanze Stelzenmüller stellt die gegenwärtigen Ereignisse in einen systematischen Zusammenhang mit Denklücken sicherheitspolitischer Überlegungen und Überzeugungen, die durch den russischen Angriff über den Haufen geworfen worden sind, und Herfried Münkler untersucht die historische und kategoriale Genese des Freund-Feind-Antagonismus.

Einen ganz anderen Zugang wählt der Biologe Josef H. Reichholf, der sowohl die Natur selbst als Feind im Blick hat, aber auch »feindliche« Antagonismen in der Natur in den Blick nimmt. Das biologische Wesen Mensch gehört in diese Reihe – und trotz allem formuliert Reichholf in einer positiven Grundstimmung: »Ob die Menschheit zur kosmischen Katastrophe wird und damit die Menschenzeit, das Anthropozän, erdgeschichtlich charakterisiert, sei dahingestellt. Warnende Anzeichen gibt es genug. Den Menschen als ›sapiens‹ zu bezeichnen, war voreilig. Aber möglich ist es, dass die Trennung von Freund und Feind überwunden, die Menschheit friedlicher und in ihrer Einwirkung auf den großen Rest der Natur moderater wird. Das ist zugegebenermaßen (m)ein ›biologischer Optimismus‹.«

Der Psychoanalytiker Timo Storck befasst sich mit inneren Bildern, die sich selbst unheimlich werden können und bisweilen antagonistisch geraten. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht die Feinde Angst machen, sondern die Angst Feinde. Mein eigener Beitrag geht von einer Dreierkonstellation aus: vom vertrauten Antagonismus von Freund und Feind auf der einen Seite und dem Fremden auf der anderen.

In unserem Gespräch mit dem israelisch-deutschen Soziologen Natan Sznaider geht es um innere und äußere Antagonismen in Israel und auch darum, warum »der Jude« als die geradezu klassische Figur des inneren Feindes gelten kann. Sznaider macht sehr deutlich, wie sehr sich die Freund-Feind-Logik innerhalb und gegenüber Israel mit geostrategischen Veränderungen der Welt verschiebt.

Wir haben wieder Intermezzi gesammelt, und zwar zu der Frage: Wer ist Ihr Lieblingsfeind? Acht Autorinnen und Autoren geben dazu sehr unterschiedliche Antworten, nämlich Helene Bubrowski, Marco Herack, Nicole C. Karafyllis, Sven Murmann, Ulv Philipper, Haya Shulman, Peter Unfried und Michael Waidner.

Die Lagerfeuer, die Heike Littger diesmal durch Freundes- und Feindesland geführt haben, führen nach Gelnhausen, irgendwo nach Deutschland und Erding. Und Jan Schwochows Grafiken zeigen, wie unterschiedlich man unterschiedliche Formen der Hilfe für die Ukraine darstellen kann und welche Rankings dabei vergleichend herauskommen, wenn man die absoluten Zahlen mit Einwohnerzahlen oder Bruttoinlandsprodukt in Verbindung bringt. So rutscht dann zum Beispiel Estland in einem Fall vom 20. auf den ersten Platz.

Eine besondere Freude ist wieder das Islandtief von Berit Glanz, inzwischen das siebte. Diesmal geht es um die Bestimmung von Naturphänomenen durch Apps – und das nicht nur unter dem technischen oder dem taxonomischen Aspekt, sondern auch im Hinblick darauf, wie die Ergebnisse solcher Naturbeobachtung dazu beitragen können, ein Bewusstsein für besondere, für gefährdete oder für besonders interessante Formen aus der Natur zu entwickeln. Dass die Beobachtung in Island mit der Nordlichtbeobachtung beginnt (damit aber noch lange nicht endet), versteht sich fast von selbst.

 © Armin Nassehi, Editorial Kursbuch 214 »Freund und Feind«

(Von der Homepage des Kursbuchs)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wenn Sie auf dem Blog kommentieren, werden die eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu finden Sie in der Datenschutzerklärung.