Der Blog wird allmählich zu einer Geburtstags- und Nachrufseite.
Gestern starb Eugen Gomringer, in Bamberg, wo Tochter Nora lebt und arbeitet.
Er war der Begründer der Konkreten Poesie (mit Verlaub, Herr Jandl, Sie wären heuer auch 100 geworden).
kein fehler im system (3)
kein system im fehler
kein system mir fehle
keiner fehl im system
keim in systemfehler
sein kystem im fehler
ein fehkler im system
seine kehl im fyrsten
ein symfehler im sekt
kein symmet is fehler
sey festh kleinr mime
© Edition Splitter, Wien
(Aus: Vom Rand nach Innen. Konstellationen 1951-1995.
Werkausgabe Bd. 1. Nachw. von Karl Riha.. Wien: Edition Splitter , 1995
www.splitter.co.at
Audioproduktion: 2004, M.Mechner / Literaturwerkstatt Berlin) H. hatte ihm noch zum 100. Geburtstag gratuliert.
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Von Nora heute Abend:
Es steht nun in der Zeitung und ist doch noch unwirklich. Auch steht
es z.T. falsch und man fragt sich, wie und was noch recherchiert wird
in den Redaktionen. (Meine Mutter hätte sogleich Leserbriefe -
strenge!- geschrieben:) Unser Vater, Eugen Gomringer, bolivianischer
Schweizer, Dichter, Professor der Ästhetiklehre, Herausgeber und
mit-Begründer der legendären Literaturzeitschrift “Spirale”,
Rosenthaler mit Herz und ganzer Seele, Werkbundler, erster von Albers
lizenzierter Verkäufer von Albers “Quadraten” und Freund
unendlich vieler Bildender Künstler, die rührend ! die Treue
hielten, flammender Rotarier und Paul Harris Fellow, ist am
Donnerstagmorgen (nicht Freitag!) verstorben. Ich fand ihn und bin
glücklich, dass ich diesen Blick haben durfte. Er war mir die
letzten Jahre anvertraut und ich nahm diese Aufgabe furchtbar ernst.
Alle, die mich und uns, den Vater, den Bruder und mich, durch diese
Zeit begleitet haben, wissen, welche Spuren es hinterlassen hat.
100
wurde er und ich fand es triumphal, dass der Erfinder - nicht
“Miterfinder”- der konkreten poesie mit den Kollegen Jandl und
Gappmayr im selben Jahr 100 wurde. Und er es erlebt hat.
Irgendwie
stellvertretend.
Jetzt
ist es still und schwer. Und leer. Drei Wochen hat er gekämpft und
ist letztlich ruhig entschlafen. Mein Mann, mein Bruder und ich
hielten Wache an seinem Bett gestern, als er abgeholt wurde, war es
trotzdem ein Schock für mich. Es bleiben viele Fragen über das
Alter, den unerbittlichen Jedermann-Prozess, die Pflegeversorgung,
das eigene Tun, Handeln und Zagen und die unendlichen Fragen zum
Vater, seinem Leben, seiner Person. Ich reihe mich in die lange Reihe
der alten Waisenkinder, weiß mich in bester Gesellschaft und doch…
mein Papa ist nun fort. Und ich steh da wie ein “kleines Dreieck”
(Kosename für mich in kleinkindlicher Winterkleidung).
-
Nora Gomringer
(die
nächsten Tage nur sporadisch erreichbar, alle lieben Worten
aufnehmend, aber nicht fähig, zu antworten. Eine Weile. Dann hier
und da spontan. Danke im Namen der Gomringers, Heides, Ottenhausens,
Kleins und Wilkers. Diese Familie hat viele Ecken und Kanten, an und
von denen uns andere kennen. Da ist immer gute Sicht, aber wir
verstehen uns: Einsichten gibt es nur wenige. Die meisten gehören
uns doch allein: “vom rand nach innen” wie eines der tollsten
Bücher von EG betitelt war.

Das
letzte von unserer Familie autorisierte Foto ist dieses Portrait von
Jacobia Dahm: Es steht nun in der Zeitung und ist doch noch
unwirklich. Auch steht es z.T. falsch und man fragt sich, wie und was
noch recherchiert wird in den Redaktionen. (Meine Mutter hätte
sogleich Leserbriefe - strenge!- geschrieben:) Unser Vater, Eugen
Gomringer, bolivianischer Schweizer, Dichter, Professor der
Ästhetiklehre, Herausgeber und mit-Begründer der legendären
Literaturzeitschrift “Spirale”, Rosenthaler mit Herz und ganzer
Seele, Werkbundler, erster von Albers lizenzierter Verkäufer von
Albers “Quadraten” und Freund unendlich vieler Bildender
Künstler, die rührend ! die Treue hielten, flammender Rotarier und
Paul Harris Fellow, ist am Donnerstagmorgen (nicht Freitag!)
verstorben. Ich fand ihn und bin glücklich, dass ich diesen Blick
haben durfte. Er war mir die letzten Jahre anvertraut und ich nahm
diese Aufgabe furchtbar ernst. Alle, die mich und uns, den Vater, den
Bruder und mich, durch diese Zeit begleitet haben, wissen, welche
Spuren es hinterlassen hat.---
Nora Gomringer, geboren 1980, ist Schweizerin und Deutsche. Sie ist
Lyrikerin und schreibt für Radio und Feuilleton, veröffentlicht Kolumnen
und Essays. In den letzten Jahren ist ihre Medienpräsenz durch
verschiedene Film- und TV-Arbeiten gewachsen, dabei wird ihr Name fest
mit Gedichten und Kulturvermittlung verbunden. Auftragsarbeiten wie
Libretti für Opernprojekte und das Theaterstück „OINKONOMY“ wurden für
verschiedene Bühnen realisiert. Gastprofessuren und Stipendien führten
sie nach Sheffield, Koblenz/Landau, Oberlin/Ohio, Kyoto, New York und
Novosibirsk. Seit 2010 ist sie Direktorin des Internationalen
Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg/Bayern. 2015 gewann sie den
Ingeborg-Bachmann-Preis für den Prosatext „Recherche“ und 2020 die
Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz für ihre Verdienste
für die deutsche Sprache. Ihre letzte Auszeichnung ist der
Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis 2022. Ihr Werk ist in zahlreiche Sprachen
übersetzt.