Freitag, 18. März 2022

Tag 727 (Tag 23 des Kriegs) Beitrag 20 von der Schulleiterfreundin

Lieber Hauptschulblues!

Hier unten ist der Schnee weg, aber in den Bergen oben hängt er aber noch. Jetzt komme ich endlich mal dazu wieder was zu schreiben:

Kurz vor den Faschingsferien stellten die Lehrer fest, dass relativ wenig Schüler während der großen Pause auf dem Hof waren. Vor allem die höheren Klassen machten sich rar. Komisch. Praktika gab es keine, auch sonstige außergewöhnliche Unternehmungen konnten nicht beobachtet werden. Stutzig geworden schauten wir genauer hin. Das Schulhaus ist recht weitläufig, es gibt viele Schlupfwinkel. Zu Beginn der großen Pause bewegen sich die Schülerströme in Richtung Pausenausgang. Ein weiterer Strom bog jedoch nach rechts Richtung Haupteingang ab. Aha. Von dort geht es in eine kleine Parkanlage mit Büschen, Bäumen und Bänken.
Ein wunderbarer, friedlicher Ort, um eine gewisse Zeit außerhalb des Blickwinkels des Lehrpersonals zu sein. Man kann ungestört Dinge tun, die ansonsten schwer verfolgt werden, womöglich noch den Eltern gemeldet werden, z.B. rauchen, ...
Es gab eine Lautsprecherdurchsage, dass der Aufenthalt in der Pause außerhalb des Schulgeländes nicht erlaubt sei. Die Schüler*innen zeigten sich recht unbeeindruckt. Wir überlegten, wie wir ohne großen Aufwand das Verlassen unterbinden könnten. Dann die zündende Idee: Den Haupteingang während der Pause zusperren. Gesagt, getan.
Schon am ersten Tag der Umsetzung stand ein Grüppchen am Ende der Pause rüttelnd und schimpfend an der versperrtenTür vor dem Haupteingang. Man habe nur einmal kurz den Kopf raus strecken wollen... So so... Kurze Belehrung: Das Schulgelände ende vor der Tür und wer noch einmal vor der Tür erwischt werde, müsse mit einer Strafe rechnen. Eine Schülerin wurde leicht hysterisch: "Werden wir nun eingesperrt?" "Natürlich nicht, du brauchst ja nur nach links in den Pausenhof abbiegen. Müssen wir Wegweiser aufstellen?" Nach anfänglichem Murren kehrte allmählich Frieden ein. Schon wollten wir die Maßnahme wieder beenden.
Ich stand während der großen Pause mit einem jungen Lehrer im Lehrerzimmer und wir redeten über ein geplantes Projekt. Mein Blick wanderte zufällig über seine Schulter aus dem Fenster des ersten Stockes Richtung Park, eine merkwürdige Bewegung erregte meine Aufmerksamkeit.
Auch der Kollege drehte sich um. Vor unseren Augen spielte sich eine drehbuchreife Szene ab. Eine geduckte Gestalt sprang aus einem Gebüsch und näherte sich in geduckter Haltung der Schule. Zunächst suchte sie hinter einer weiteren Staude Deckung. Dann kam sie nach einer gewissen Zeit wieder hervor, schaute sich vorsichtig um und schlich näher, um sich dann wieder hinter ein Gebüsch zu begeben.
Ich drehte mich um und rannte die Treppe hinunter um noch vor dem Schüler am Eingang zu sein, die Lehrkraft folgte mir auf den Fersen. Der Haupteingang war sicher versperrt, aber der Eingang zur Turnhalle besteht aus einer Sicherheitstür. Die Eigenschaft einer derartigen Tür ist, dass man zwar das Gebäude dadurch verlassen kann, aber natürlich nicht wieder hinein kann. Außer, ja außer - man legt ein Steinchen in den Türspalt, dass das Schloss nicht schließen kann. Schon von weitem sah ich den Stein. Wir positionierten uns unter der Treppe.
Der Knabe öffnete die Tür- und stand mir gegenüber. "A., was machst du da?" "Oh, ich musste Schulden bezahlen." "Was?" "Nein, ein schrecklicher Versprecher - ich habe mir was zu essen gekauft. Ich kann nicht ohne Frühstück auskommen, ich habe verschlafen." Die Schule liegt in einer reinen Wohngegend, in näherer Umgebung gibt es keinerlei Geschäfte. "Das ist interessant. Wo hast du dir denn was gekauft? Ich verspüre auch gerade Hunger ..." "Es ist nicht so wie Sie denken." "Nun, du wirst mir das jetzt erklären, der erste Versuch war nicht einleuchtend, es gibt kein Geschäft hier." A. beharrte auf seinem Einkauf, nach längerem Kramen brachte er eine vollkommen zerknitterte Papiertüte mit Plastiksichtfeld aus den Tiefen seiner wattierten Winterjacke zum Vorschein. Brösel rieselten zu Boden. Ich starrte auf das Sichtfeld.
Darunter sah man eine graue, steinharte, zerbrochene, Breze und viele Brösel. Meine Schätzung: Mindestens eine Woche alt. "Na, dann guten Appetit! Du musst mir nicht diesen Bäcker verraten. Auf jeden Fall gehört er angezeigt. Verstoß gegen das Lebensmittelgesetz." "Ich schwöre es..." "Stopp! Schon gut, lassen wir das jetzt. Ich lasse Gnade vor Recht gehen. Du muss etwas für die Schule machen!" "Was denn?" "Du musst allen sagen, dass wir dich erwischt haben, dass alle Lehrer aus dem
Lehrerzimmer in den Park schauen, jeden Tag..." A. wand sich, stimmte dann aber zu.
Am nächsten Tag hatte ich A. im Unterricht. Er strahlte mich an. Ich strahlte zurück und meinte beiläufig: "Ich habe mir schon Gedanken gemacht wegen der Breze. Du schaut gut aus und hast glücklicherweise diese uralte, unappetitliche Breze gut vertragen, da bin ich wirklich froh." Eine Röte breitete sich von A.s Hals bis zum Gesicht aus.
Am Freitag der ersten Woche nach den Faschingsferien kam ich nach einer Stunde um 13 Uhr direkt in die Pausenhalle. Schon vom Weitem vernahm ich Diskussionen. A. rief Klassenkameraden etwas zu. Als sogenannte Ganztagesklasse sollten die Schüler in den Pausenhof. Jedoch versammelte sich eine Schülerschar unschlüssig direkt vor dem Haupteingang. A. rief nach M. "Schauen Sie, alle wollen raus. Sie wollen Drogen kaufen oder verkaufen." "Wenn du das sagst..." Ich blieb neben A. stehen. M. kam herein und sah mich. "Ja, da vor dem Eingang hat einer Orangen auf einer Steige ausgeladen. Ich wollte eine haben." Tatsächlich nehmen wir gerade an einer Aktion für Schülerobst teil. Auf der Steige waren neben Äpfeln nur noch Karotten. A. und ich starrten stumm darauf. Nach einiger Zeit sagte ich: "A., nun kannst du genau die Auswirkungen eures Verhaltens beobachten: Halluzinationen? Später Wahnvorstellungen?"
A. musste sehr lachen. Heute, in der 2. Woche nach den Faschingsferien ist das Bestreben die Schule über den Haupteingang zu verlassen gegen Null gesunken. Wir werden das noch eine Zeitlang beobachten - aus den Fenstern des Lehrerzimmers im 1. Stock mit dem wundervollen Überblick.
Dann kann man daran denken die Sperrung des Haupteingangs in der Pause wieder aufzuheben.

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