Lieber Hauptschulblues!
Hier unten ist der Schnee weg, aber in den Bergen oben hängt er aber noch. Jetzt komme ich endlich mal dazu wieder was zu schreiben:
Kurz vor den Faschingsferien stellten die Lehrer fest, dass relativ wenig Schüler während der großen Pause auf dem Hof waren. Vor allem die
höheren Klassen machten sich rar. Komisch. Praktika gab es keine, auch
sonstige außergewöhnliche Unternehmungen konnten nicht beobachtet
werden. Stutzig geworden schauten wir genauer hin. Das Schulhaus ist
recht weitläufig, es gibt viele Schlupfwinkel. Zu Beginn der großen
Pause bewegen sich die Schülerströme in Richtung Pausenausgang. Ein
weiterer Strom bog jedoch nach rechts Richtung Haupteingang ab. Aha. Von
dort geht es in eine kleine Parkanlage mit Büschen, Bäumen und Bänken.
Ein wunderbarer, friedlicher Ort, um eine gewisse Zeit außerhalb des
Blickwinkels des Lehrpersonals zu sein. Man kann ungestört Dinge tun,
die ansonsten schwer verfolgt werden, womöglich noch den Eltern gemeldet
werden, z.B. rauchen, ...
Es gab eine Lautsprecherdurchsage, dass der Aufenthalt in der Pause
außerhalb des Schulgeländes nicht erlaubt sei. Die Schüler*innen zeigten sich recht
unbeeindruckt. Wir überlegten, wie wir ohne großen Aufwand das Verlassen
unterbinden könnten. Dann die zündende Idee: Den Haupteingang während der
Pause zusperren. Gesagt, getan.
Schon am ersten Tag der Umsetzung stand ein Grüppchen am Ende der Pause
rüttelnd und schimpfend an der versperrtenTür vor dem Haupteingang. Man
habe nur einmal kurz den Kopf raus strecken wollen... So so... Kurze
Belehrung: Das Schulgelände ende vor der Tür und wer noch einmal vor der Tür erwischt werde, müsse mit einer Strafe rechnen. Eine Schülerin wurde
leicht hysterisch: "Werden wir nun eingesperrt?" "Natürlich nicht, du
brauchst ja nur nach links in den Pausenhof abbiegen. Müssen wir
Wegweiser aufstellen?" Nach anfänglichem Murren kehrte allmählich
Frieden ein. Schon wollten wir die Maßnahme wieder beenden.
Ich stand während der großen Pause mit einem jungen Lehrer im
Lehrerzimmer und wir redeten über ein geplantes Projekt. Mein Blick
wanderte zufällig über seine Schulter aus dem Fenster des ersten Stockes
Richtung Park, eine merkwürdige Bewegung erregte meine Aufmerksamkeit.
Auch der Kollege drehte sich um. Vor unseren Augen spielte sich eine
drehbuchreife Szene ab. Eine geduckte Gestalt sprang aus einem Gebüsch
und näherte sich in geduckter Haltung der Schule. Zunächst suchte sie
hinter einer weiteren Staude Deckung. Dann kam sie nach einer gewissen
Zeit wieder hervor, schaute sich vorsichtig um und schlich näher, um sich
dann wieder hinter ein Gebüsch zu begeben.
Ich drehte mich um und rannte die Treppe hinunter um noch vor dem
Schüler am Eingang zu sein, die Lehrkraft folgte mir auf den Fersen. Der
Haupteingang war sicher versperrt, aber der Eingang zur Turnhalle
besteht aus einer Sicherheitstür. Die Eigenschaft einer derartigen Tür
ist, dass man zwar das Gebäude dadurch verlassen kann, aber natürlich
nicht wieder hinein kann. Außer, ja außer - man legt ein Steinchen in
den Türspalt, dass das Schloss nicht schließen kann. Schon von weitem
sah ich den Stein. Wir positionierten uns unter der Treppe.
Der Knabe öffnete die Tür- und stand mir gegenüber. "A., was machst du
da?" "Oh, ich musste Schulden bezahlen." "Was?" "Nein, ein schrecklicher
Versprecher - ich habe mir was zu essen gekauft. Ich kann nicht ohne
Frühstück auskommen, ich habe verschlafen." Die Schule liegt in einer
reinen Wohngegend, in näherer Umgebung gibt es keinerlei Geschäfte. "Das
ist interessant. Wo hast du dir denn was gekauft? Ich verspüre auch
gerade Hunger ..." "Es ist nicht so wie Sie denken." "Nun, du wirst mir
das jetzt erklären, der erste Versuch war nicht einleuchtend, es gibt
kein Geschäft hier." A. beharrte auf seinem Einkauf, nach längerem
Kramen brachte er eine vollkommen zerknitterte Papiertüte mit
Plastiksichtfeld aus den Tiefen seiner wattierten Winterjacke zum
Vorschein. Brösel rieselten zu Boden. Ich starrte auf das Sichtfeld.
Darunter sah man eine graue, steinharte, zerbrochene, Breze und
viele Brösel. Meine Schätzung: Mindestens eine Woche alt. "Na, dann
guten Appetit! Du musst mir nicht diesen Bäcker verraten. Auf jeden Fall
gehört er angezeigt. Verstoß gegen das Lebensmittelgesetz." "Ich schwöre
es..." "Stopp! Schon gut, lassen wir das jetzt. Ich lasse Gnade vor
Recht gehen. Du muss etwas für die Schule machen!" "Was denn?" "Du musst
allen sagen, dass wir dich erwischt haben, dass alle Lehrer aus dem
Lehrerzimmer in den Park schauen, jeden Tag..." A. wand sich, stimmte
dann aber zu.
Am nächsten Tag hatte ich A. im Unterricht. Er strahlte mich an. Ich
strahlte zurück und meinte beiläufig: "Ich habe mir schon Gedanken
gemacht wegen der Breze. Du schaut gut aus und hast glücklicherweise
diese uralte, unappetitliche Breze gut vertragen, da bin ich wirklich
froh." Eine Röte breitete sich von A.s Hals bis zum Gesicht aus.
Am Freitag der ersten Woche nach den Faschingsferien kam ich nach einer
Stunde um 13 Uhr direkt in die Pausenhalle. Schon vom Weitem vernahm ich
Diskussionen. A. rief Klassenkameraden etwas zu. Als sogenannte
Ganztagesklasse sollten die Schüler in den Pausenhof. Jedoch versammelte
sich eine Schülerschar unschlüssig direkt vor dem Haupteingang. A.
rief nach M. "Schauen Sie, alle wollen raus. Sie wollen Drogen
kaufen oder verkaufen." "Wenn du das sagst..." Ich blieb neben A. stehen. M. kam herein und sah mich. "Ja, da vor dem Eingang hat einer
Orangen auf einer Steige ausgeladen. Ich wollte eine haben." Tatsächlich
nehmen wir gerade an einer Aktion für Schülerobst teil. Auf der Steige
waren neben Äpfeln nur noch Karotten. A. und ich starrten stumm
darauf. Nach einiger Zeit sagte ich: "A., nun kannst du genau die
Auswirkungen eures Verhaltens beobachten: Halluzinationen? Später
Wahnvorstellungen?"
A. musste sehr lachen. Heute, in der 2. Woche nach den Faschingsferien
ist das Bestreben die Schule über den Haupteingang zu verlassen gegen
Null gesunken. Wir werden das noch eine Zeitlang beobachten - aus den
Fenstern des Lehrerzimmers im 1. Stock mit dem wundervollen Überblick.
Dann kann man daran denken die Sperrung des Haupteingangs in der Pause
wieder aufzuheben.
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