Leo Tolstoi - Rede gegen den Krieg (Quelle: https://www.anarchismus.at/texte-antimilitarismus/8096-leo-tolstoi-rede-gegen-den-krieg)
Auf dem Friedenskongress, der im September 1909 in Stockholm tagen sollte, wollte Leo Tolstoi eine Ansprache an die Delegierten halten. Der Kongress fand nicht statt. Tolstoi hatte den Wunsch, zu gleicher Zeit allen Völkern mitzuteilen, was damals zu sagen er verhindert worden war.
Geliebte Brüder!
Wir haben uns hier versammelt, um gegen den
Krieg zu kämpfen. Gegen den Krieg, das will heißen, gegen das, wofür
sämtliche Völker der Erde, Millionen und Millionen von Menschen, einigen
Dutzenden, manchmal bloß einem einzigen Menschen, nicht nur Milliarden
von Rubeln, Talern, Franken, Jens, die einen großen Teil ihrer Arbeit
repräsentieren, sondern auch sich selbst, ihr Leben uneingeschränkt zur
Verfügung stellen. Und nun wollen wir, ein Dutzend Privatmenschen, die
aus verschiedenen Enden der Erde zusammengekommen sind, ohne alle
besonderen Privilegien, vor allem ohne jede Macht über jemanden,
kämpfen; und wenn wir kämpfen wollen, so hoffen wir auch zu siegen über
diese ungeheure Macht nicht etwa nur einer, sondern aller Regierungen,
die über Milliarden Geldes und über Armeen von Millionen Menschen
verfügen und es nur zu gut wissen, daß die Ausnahmestellung, die sie, d.
h. die Menschen, welche die Regierung bilden, einnehmen, einzig und
allein auf dem Militär beruht -, auf dem Militär, welches nur dann Sinn
und Bedeutung hat, wenn der Krieg besteht, derselbe Krieg, gegen den wir
kämpfen wollen und den wir vernichten möchten.
Bei solchen
ungleichen Kräften muß ein Kampf als Wahnsinn erscheinen. Macht man sich
aber die Bedeutung der Kampfmittel, die sich in den Händen jener, die
wir bekämpfen wollen, und die sich in unseren Händen befinden, klar, so
werden wir nicht darüber staunen, daß wir uns zum Kampf entschließen,
sondern darüber, daß das, was wir bekämpfen wollen, überhaupt noch
besteht. In ihren Händen befinden sich Milliarden von Geld, Millionen
williger Soldaten, in unsern Händen befindet sich nur ein Mittel, aber
das allermächtigste Mittel der Welt - die Wahrheit.
Und deshalb
mögen unsere Kräfte noch so gering erscheinen in Vergleich mit den
Kräften unserer Gegner, unser Sieg ist ebenso gewiß, wie der Sieg des
Lichtes der aufgehenden Sonne über die Finsternis der Nacht.
Unser
Sieg ist gewiß, aber nur unter einer Bedingung - unter der Bedingung,
daß wir die Wahrheit verkündigen und sie rückhaltlos, ohne alle
Umschweife, ohne jede Konzession, ohne jede Milderung heraussagen. Diese
Wahrheit aber ist so einfach, so klar, so einleuchtend, so verbindlich
nicht bloß für den Christen, sondern für jeden vernünftigen Menschen,
daß man sie nur in ihrer ganzen Bedeutung auszusprechen braucht, auf daß
die Menschen ihr nicht mehr zuwider handeln können.
Diese
Wahrheit ist in ihrer vollen Bedeutung in dem enthalten, was
Jahrtausende vor uns in dem Gesetz, das wir das Gesetz Gottes nennen, in
zwei Worten gesagt ist: Tötet nicht! Diese Wahrheit besagt, daß der
Mensch unter keinen Umständen und unter keinerlei Vorwand einen andern
töten kann oder darf.
Diese Wahrheit ist so klar, so allgemein
anerkannt, so verpflichtend, daß sie nur klar und bestimmt vor den
Menschen aufgestellt zu werden braucht, damit das Übel, das Krieg heißt,
vollkommen unmöglich werde. Und deshalb glaube ich, daß wir, die hier
zum Weltkongreß versammelt sind, wenn wir diese Wahrheit nicht klar und
bestimmt aussprechen, sondern uns an die Regierungen wenden und ihnen
allerlei Maßnahmen vorschlagen, um die Übel des Krieges zu verringern
und die Kriege seltener zu machen, auf diese Weise jenen Menschen
gleichen, die mit dem Torschlüssel in den Händen gegen die Mauern Sturm
laufen, die, sie wissen es wohl, ihre Anstrengungen nicht zu stürzen
vermag. Wir wissen, daß alle diese Menschen gar kein Verlangen danach
haben, ihresgleichen zu töten, zumeist sogar die Veranlassung nicht
kennen, auf die hin man sie zur Ausführung dieser Tat zwingt, die ihnen
widerlich ist; daß ihnen ihre Lage, in der sie Bedrückung und Zwang
erleiden, zur Last fällt; wir wissen, daß die Mordtaten, die von Zeit zu
Zeit von diesen Menschen verübt werden, auf Befehl der Regierung
geschehen, wissen, daß das Bestehen der Regierung durch die Armeen
bedingt wird. Und nun finden wir, die wir die Vernichtung des Krieges
anstreben, nichts Zweckmäßigeres zu seiner Aufhebung, als ihnen
anzuraten, - ja, wem denn? den Regierungen, die bloß durch das Militär,
also durch den Krieg bestehen, - solche Maßregeln zu ergreifen, die den
Krieg vernichten sollen, d. h. wir raten den Regierungen, sich selbst zu
vernichten.
Die Regierungen werden mit Befriedigung all solche
Reden hören, denn sie wissen nicht nur, daß derlei Erörterungen den
Krieg nicht vernichten und ihre Macht nicht untergraben, sondern auch,
daß die eigentliche Ursache dadurch den Menschen nur noch besser
verborgen wird, die Ursache, die sie vor ihnen verbergen müssen, damit
Armeen und Kriege und auch sie selbst, die diese Armeen befehligen,
fortbestehen können.
"Ja, aber das ist doch Anarchismus: niemals
haben die Menschen ohne Regierung und Staat gelebt. Und darum sind
Regierungen und Staaten und auch die Heeresmacht, die sie beschützt,
unerläßliche Lebensbedingungen der Menschen", wird man mir entgegnen.
Ganz
abgesehen davon, ob ein Leben der christlichen Völker und überhaupt
aller Völker ohne Militär und Krieg, von denen Regierungen und Staat
beschützt werden, möglich ist oder nicht, zugegeben sogar, die Menschen
müßten sich unbedingt zu ihrem Wohle den Institutionen, welche aus
Menschen bestehen, die sie nicht kennen und die sie Regierungen heißen,
knechtisch unterwerfen, zugegeben, sie müßten diesen Einrichtungen
unweigerlich die Produkte ihrer Arbeit überliefern, sie müßten allen
Forderungen dieser Einrichtungen unbedingt bis zum Mord an ihren
Nächsten Folge leisten, - auch wenn wir das alles zugeben, selbst dann
bleibt noch eine Schwierigkeit, die unsere Welt nicht lösen kann. Diese
Schwierigkeit besteht in der Unmöglichkeit, den christlichen Glauben, zu
dem sich alle Menschen, welche die Regierung repräsentieren, mit
besonderem Nachdruck bekennen, mit ihren aus Christen bestehenden
Armeen, die sie zum Morde abrichten, zu vereinbaren. Man mag die
christliche Lehre noch so sehr entstellen, mag nach Belieben sich um
ihre Hauptlehren schweigend herumdrücken, die Grundidee dieser Lehre
besteht doch nur in der Liebe zu Gott und den Nächsten. Zu Gott, das
heißt zur allerhöchsten Vollkommenheit der Tugend, und zum Nächsten, das
heißt zu allen Menschen ohne Unterschied. Deshalb, sollte man glauben,
muß man eines von beiden anerkennen: entweder das Christentum mit der
Liebe zu Gott und den Nächsten, oder den Staat mit Armeen und Krieg.
Es
ist sehr wohl möglich, daß das Christentum seine Zeit überlebt hat und
daß die modernen Menschen, wenn sie vor die Wahl gestellt werden, sich
für das Christentum und die Liebe oder den Staat und den Mord zu
entscheiden, finden werden, das Bestehen des Staates sei dermaßen
wichtiger als das Christentum, daß man das Christentum vergessen und nur
am Wichtigeren festhalten müsse: am Staat und am Mord.
Alles das
mag schon sein, - wenigstens können die Menschen so denken und fühlen.
Dann aber muß man es auch so sagen. Man muß sagen, die Menschen unserer
Zeit müßten aufhören zu glauben, was die gemeinsame Weisheit der ganzen
Menschheit sagt, was das Gesetz, zu dem sie sich bekennen, verkündigt,
sie müßten aufhören zu glauben, was mit unvertilgbaren Zügen in das Herz
eines jeden gegraben ist, und müßten statt dessen an das glauben, was
ihnen - den Mord inbegriffen - die und jene Menschen befehlen, Kaiser
und Könige, die durch Zufall oder Erblichkeit zu ihrer Stellung gekommen
sind, oder Präsidenten, Reichstagsabgeordnete und Deputierte, die mit
Hilfe von allerlei Schlichen gewählt worden sind. Das also muß man dann
sagen.
Nun aber kann man das nicht sagen. Nicht bloß dies kann
man nicht sagen, sondern weder das eine noch das andere kann man sagen.
Sagt man, das Christentum verbietet den Mord, - so wird es kein Militär
geben, es wird keinen Staat geben. Sagt man, wir, die Regierung,
erkennen die Berechtigung des Mordens an und leugnen das Christentum, -
so wird sich niemand einer Regierung unterwerfen wollen, die ihre Macht
auf Mord aufbaut. Und noch eins: wenn der Mord im Kriege zulässig ist,
muß er erst recht dem Volke gestattet sein, das sein Recht in der
Revolution sucht. Und deshalb sind die Regierungen, da sie weder das
eine noch das andere sagen können, nur um eines besorgt: ihren
Untertanen zu verbergen, daß es notwendig ist, zwischen diesen zwei
Wegen die Entscheidung zu treffen.
Darum also haben wir, die wir
hier versammelt sind, um dem Übel des Krieges zu steuern, wenn wir unser
Ziel wirklich erreichen wollen, nur eines zu tun: wir müssen dieses
Entweder-Oder mit voller Bestimmtheit und Klarheit aufstellen, in
gleicher Weise vor den Menschen, welche die Regierung ausmachen, wie vor
den Massen des Volkes, die das Militär bilden. Und dies müssen wir in
der Art tun, daß wir nicht nur klar und offen die allen Menschen
bekannte Wahrheit wiederholen: Ein Mensch darf den andern nicht töten!
sondern noch dazu ausdrücklich erklären, daß keinerlei Erörterungen die
Menschen der christlichen Welt von der Verpflichtung, die diese Wahrheit
in sich schließt, befreien können.
Deshalb möchte ich unserer
Versammlung den Vorschlag machen, einen Aufruf an die Menschen
sämtlicher und besonders der christlichen Völker zu verfassen und zu
veröffentlichen, worin wir klar und gerade heraus sagen, was zwar alle
wissen, was aber niemand oder so gut wie niemand sagt: nämlich, daß der
Krieg nicht, wie das jetzt die Menschen vorgeben, irgendeine besondere
wackere und lobenswerte Sache sei, sondern daß er, wie jeder Mord, eine
abscheuliche und frevelhafte Handlung ist, und zwar nicht nur für die,
welche die militärische Laufbahn aus freien Stücken wählen, sondern auch
für die alle, die sich ihr aus Furcht vor Strafe oder um eigennütziger
Interessen willen widmen.
Im Hinblick auf die Personen, die die
militärische Tätigkeit freiwillig wählen, möchte ich vorschlagen, daß
wir in diesem Aufruf klar und präzis zum Ausdruck bringen, daß diese
Tätigkeit, ungeachtet aller Feierlichkeit, allen Glanzes und der
allgemeinen Billigung, die ihr zuteil wird, verbrecherisch und
schändlich ist, und zwar umsomehr, je höher die Stellung ist, die der
Mensch im Militärdienst einnimmt. Ebenso möchte ich in bezug auf die
Menschen aus dem Volke, die durch Androhung von Strafen oder durch
Aussicht auf Gewinn zum Militär herangezogen werden, vorschlagen, daß
wir klar und bestimmt auf den großen Irrtum hinweisen, den sie gegen
ihren Glauben, wie gegen die Sittlichkeit und den gesunden
Menschenverstand dadurch begehen, daß sie darein einwilligen, in die
Armee zu treten: Gegen den Glauben dadurch, daß sie in die Reihen von
Mördern treten und das von ihnen anerkannte Gesetz Gottes verletzen;
gegen die Sittlichkeit dadurch, daß sie aus Furcht, von Seiten der
Behörden bestraft zu werden oder um eigennütziger Interessen willen
bereit sind, zu tun, was sie in ihrem Innern für schlecht erkennen; und
gegen den gesunden Menschenverstand dadurch, daß sie, wenn sie in das
Heer treten, im Kriegsfall von denselben, wenn nicht noch schwereren
Leiden bedroht sind, als die sind, die ihnen für die Dienstweigerung
drohen; gegen den gesunden Menschenverstand vor allem aber schon darum,
weil sie demselben Schlag Menschen sich beigesellen, der sie ihrer
Freiheit beraubt und sie zum Militärdienste zwingt.
Die
Menschheit im allgemeinen und unsere christliche Menschheit im
besonderen ist zu einem so schroffen Widerspruch zwischen ihren
sittlichen Forderungen und der bestehenden Gesellschaftsordnung gelangt,
daß unbedingt eines geändert werden muß, nicht das, was nicht geändert
werden kann: die sittlichen Forderungen des Gewissens sondern das, was
wohl geändert werden kann: die Gesellschaftsordnung. Diese Änderung, die
der innere Widerspruch gebietet, der in der Vorbereitung zum Morde
besonders scharf zu Tage tritt, wird von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag
immer dringender. Die Spannung, die diese bevorstehende Änderung seit
langem erzeugt, hat heute schon einen solchen Grad erlangt, daß es, wie
zum Übergang eines flüssigen Körpers in einen festen manchmal ein
geringer Stoß genügt, ebenso auch zum Übergang aus jenem grausamen und
unvernünftigen Leben der Menschen mit seiner Absonderung, seinen
Rüstungen und Armeen, zu einem vernünftigen, den Forderungen der
Erkenntnis der jetzigen Menschheit entsprechenden Leben möglicherweise
nur einer geringen Anstrengung, vielleicht nur eines Wortes bedarf. Jede
solche Anstrengung, jedes solche Wort kann zu jenem Stoß der
abgekühlten Flüssigkeit werden, der plötzlich die Flüssigkeit in einen
festen Körper verwandelt. Warum sollte unsere jetzige Versammlung nicht
diese Anstrengung sein? So, wie im Märchen Andersens, als beim
feierlichen Umzüge der König durch die Straßen der Stadt ging, und das
ganze Volk entzückt war ob der wunderbaren neuen Kleidung, ein Wort
eines Kindes, das aussprach, was alle wußten, aber niemand sagte, alles
geändert hat. Es sagte: "Er hat ja gar nichts an", und die Suggestion
hörte auf, und der König schämte sich, und alle Menschen, die sich
eingeredet hatten, ein wunderschönes neues Kleid am König zu sehen,
wurden nun gewahr, daß er nackt sei. Auch wir müssen dasselbe sagen, wir
müssen sagen, was alle wissen und nur nicht zu sagen wagen, wir müssen
sagen, daß, wenn die Menschen dem Mord einen noch so veränderten Namen
geben, der Mord immer nur Mord bleibt - eine frevelhafte, schmachvolle
Tat. Und man braucht nur klar, bestimmt und laut, wie wir das hier zu
tun vermögen, dies zu sagen, und die Menschen werden aufhören zu sehen,
was sie zu sehen vermeinten und werden erblicken, was sie in
Wirklichkeit sehen. Sie werden aufhören, im Krieg den Vaterlandsdienst,
den Heldenmut, den Kriegsruhm, den Patriotismus zu sehen, und werden
sehen, was da ist: die nackte frevelhafte Mordtat. Und wie die Menschen
das sehen, wird dasselbe geschehen, was in dem Märchen geschah:
diejenigen, die die Freveltaten üben, werden sich schämen, diejenigen
aber, die sich eingeredet haben, daß sie im Mord keine Frevelhaftigkeit
sehen, werden sie jetzt gewahr werden, und werden aufhören. Mörder zu
sein.
Wie aber sollen sich die Völker gegen die Feinde wehren,
wie soll die innere Ordnung aufrecht erhalten werden, wie können die
Völker ohne Militär bestehen?
Welche Form das Leben der Menschen
annehmen wird, wenn sie den Mord unterlassen, wissen wir nicht und
können es nicht wissen, eines aber ist sicher: daß es den Menschen, die
mit Vernunft und Gewissen begabt sind, natürlicher ist, ihr Leben von
Vernunft und Gewissen lenken zu lassen, als sich knechtisch denen zu
unterwerfen, die das gegenseitige Töten anordnen. Und sicher ist darum
auch, daß die Form der gesellschaftlichen Ordnung, die das Leben der
Menschen annehmen wird, wenn sie sich bei ihren Handlungen nicht von der
Gewalt, die auf Todesdrohungen gegründet ist, sondern von der Vernunft
und vom Wissen leiten lassen, jedenfalls nicht schlimmer wird, als das
Leben, das sie jetzt führen.
Das ist alles, was ich sagen wollte.
Es wäre mir sehr leid, wenn ich jemanden beleidigt, gekränkt oder böse
Gefühle in ihm erweckt hätte. Doch wäre es für mich, einen 80jährigen
Greis, der jeden Augenblick des Todes gewärtig ist, eine Schande, nicht
ganz offen die Wahrheit zu sagen, wie ich sie verstehe, die Wahrheit,
die nach meiner festen Überzeugung allein die Menschheit von den
unseligen Drangsalen zu erretten vermag, die der Krieg hervorbringt und
unter denen sie leidet.
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