Hier der Hinweis auf ein sehr interessantes Projekt der Lichterkette.
Deutschland hellster Verein unterhält bekanntlich eine Reihe von Projekten. Über Vorbilder und Klare Sprache wurde bereits berichtet. Hier das Youthnet.
Jugendnetzwerk für München
Max Beckmann – Junge Flüchtlinge haben sich mit „Departure“ beschäftigt.
YouthNet ist ein interkulturelles und interreligiöses Netzwerk für München. Bei uns begegnen sich Jugendliche mit christlichem, muslimischem, jüdischem, ezidischem und anderem Hintergrund. Sie sind entweder in München geboren, hierher umgezogen oder nach München geflüchtet.
Das Projekt wird von professionellen Trainern, den Organisatoren und den Mentoren begleitet. Das Ziel der Treffen ist der gemeinsame Austausch, das kreative Arbeiten und der Umgang in einer offenen und kulturell gemischten Gemeinschaft. Jeder Teilnehmer hat bei YouthNet die Möglichkeit, Instrumente der interkulturellen Kommunikation zu erlernen. Die Fähigkeiten zur Teamarbeit werden gestärkt. Die aktive Integrationsarbeit erhöht die Toleranzbereitschaft aller Teilnehmer. Spaß und neue Kontakte sind garantiert! Zusätzlich erhält jedes Gruppenmitglied nach erfolgreicher Teilnahme am Projekt ein Zertifikat der Lichterkette e.V.. Dies hilft euch bei eurem Lebenslauf und späteren Bewerbungen.
Ein Raum der Ausstellung in der Pinakothek der Moderne ist von jungen Menschen gestaltet, die sich das Thema „Depature“ vornahmen. Teilweise sind sie selbst Flüchtlinge, teilweise kennen sie die Erlebnisse nur durch Erzählungen von Familienmitgliedern. „Relikte“ gibt es reichlich, auch wenn die Flucht Jahrzehnte zurückliegt. Beispielsweise den Fluchtkoffer, Fotos, Besteck, Gebetbücher Kochrezepte, …
Zusammen mit einer Künstlerin besuchten sie die Ausstellung. Zunächst wurden die jungen Leute nicht unbedingt vom Malstil Beckmanns beeindruckt. Daher dauerte es lange bis Einige dem Auftrag „Suche das Bild, das auf dich und deine Situation zutrifft!“ nachkommen konnten. Anschließend sollte dieses Bild ganz auf den Jugendlichen durch eine Collage, durch Photoshop etc. abgestimmt werden. Es entstanden aber auch persönliche Erzählungen.
Diese Menschen, ca. 19 bis 21 Jahre alt, konnten sich selbst dafür entscheiden, ihr Leben darzulegen. Trotzdem fiel es ihnen nicht leicht. Die Ergebnisse sind sehr eindrucksvoll.
Die Werke der Jugendlichen konnte ich leider hier nicht zeigen, da sie erst am Ende der Ausstellung ins Internet kommen. Aber man kann sie sich selbst anschauen.
Bitte Vorsicht! Ein so sensibles, heikles Thema lässt sich nur bei einer gewissen Reife und freiwillig durchführen. Auch hier kam es zu emotionalen Krisen. In einer Schulklasse gibt es auch SchülerInnen, die nicht mit der Thematik vertraut sind und die nicht über die geistige Reife verfügen, damit klar zu kommen.
Über die Problematik habe ich mit YouthNet diskutiert.
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Das hungrige Meer
Ali erzählt die Geschichte seiner eigenen Überfahrt von der Türkei nach Griechenland in einem Schlauchboot. Dieses Erlebnis steht exemplarisch für das Drama, welches sich seit Jahren auf dem Mittelmeer abspielt und schon zahlreiche Menschenleben gekostet hat.
Samstag 04.10.2014 Ich saß bei Sonnenaufgang auf einem kleinen Berg in der türkischen Stadt Izmir/Ceşme nahe der Küste von Elif Koyo. Es war ein besonderer Tag. Es war das muslimische Opferfest. Damals war ich 14 Jahre alt, fühlte mich aber wie 30 Jahre alt. Ich werde diesen Morgen nie vergessen. Der Sonnenaufgang war irgendwie sehr schön und beruhigend aber auch kraftvoll und beängstigend. Ich war dort mit 25 anderen Leuten, die alle zwischen Büschen schliefen. Ältere Menschen, Kinder und Frauen. Der Plan war, dass wir alle in der Nacht zum 5. Oktober 2014 mit einem schwarzen Schlauchboot und einem Yamaha-Motor die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland überqueren.
Die Sonne ging langsam auf und ich spürte die Wärme auf meiner Haut und das glanzvolle Meer blendete meine Augen. Der Gedanke, dass dies der letzte Sonnenaufgang sein könnte, den ich sehen werde, beunruhigte mich. Ich war so verloren im Gedanken und plötzlich hörte ich Schritte zwischen den Büschen und stand sofort erschrocken auf. Ich griff nach meinem Messer und fragte mit einer zittrigen Stimme: "Hey, wer ist da?" (auf Türkisch). Plötzlich sagte jemand: „Hey Ali ich bin’s, Hossein, bitte nicht erschrecken. Unser Kapitän ist da. Komm du musst ihn dir ansehen und glaube es mir du wirst überrascht sein.“
Ich antwortete dann: „Salam Bruder, ich wollte den Sonnenaufgang beobachten. Lass uns ihn ansehen und dann Fleisch sammeln gehen denn heute ist Opferfest und ein letztes Barbecue in der Türkei darf nicht fehlen.“
Wir gingen und als ich unseren Kapitän sah, fehlten mir die Worte. Er war gerade vielleicht 15 Jahre alt und er sollte 27 Personen mit einem Schlauchboot über die Grenze fahren. Er hieß Mohammad und hatte ein sehr starkes Selbstbewusstsein. Man konnte ihn sofort Vertrauen schenken aber eines fiel mir auf, er konnte sich auch sehr gut verkaufen. Er war sehr gut informiert und hatte für jede Frage eine Antwort. Naja der arme kleine Junge wurde gut trainiert. Er war kein Einzelfall denn die Schlepper setzten Kinder oft für sowas ein. Alle waren mit der Situation unzufrieden aber alle wussten, dass er genauso verarscht wurde wie wir. Die Schlepper haben ihn kostenlos mitfahren lassen aber dafür musste er das Boot steuern. Ein Verbrechen oder besser gesagt ein Missbrauch.
Nach viele Diskussionen gingen wir zu viert von Tür zu Tür und kamen mit viel Fleisch zurück. Unterwegs kauften wir Spieße und Salz. Ich sagte zu Hossein: „Bruder, finde zwei Steine und etwas Holz. Wir bauen einen Naturgrill auf.“ Es war Mittag und sehr heiß. Langsam kamen die ersten Strandbesucher zum Schwimmen. Wir feuerten den Grill an und es gab große Rauchwolken, aber das war mir egal. Wir gingen sogar später zum Strand und schwammen.
Ich wollte mein Glück versuchen, ob wir bemerkt werden und die Polizei kommt. Ich wusste aber auch, dass Feiertag ist und nicht viele Polizisten unterwegs sein würden. Die Sonne ging langsam wieder unter, die Angst in mir wuchs weiter und die Nacht kehrte zurück. Um genau 23:00 Uhr fingen wir an das Schlauchboot aufzublasen und den Motor anzuschließen. Um 00:00 gingen die Strandlaternen aus und es war die perfekte Zeit für uns. Um 00:15 Uhr wurde das Boot ins Wasser gelassen und wir starteten. Unsere Strecke zum griechischen Ufer war weit. Die schweren Passagiere saßen vorne, die Leichten hinten und die Frauen und Kinder möglichst in der Mitte. Ich war mit dem Meer sehr vertraut und wusste, wie ich mich auf dem Wasser zu verhalten hatte. Ich habe davor als Fischer gearbeitet oder besser gesagt auf einem Boot ausgeholfen und darum setzte mich jetzt direkt neben Mohammad, den Kapitän. Alle außer mir saßen mit einer Schwimmweste im Boot. Ich konnte sie mir nicht leisten, aber ich vertraute meinen Schwimmkünsten. Alle Augen waren auf unseren kleinen Kapitän gerichtet und sie waren voller Hoffnung und Angst. Ich hatte plötzlich weiche Knie und verdammte Angst. Er startete den Motor und fuhr los. Nach ein paar Metern bemerke ich, dass wir sehr schwer sind und Wasser in das Boot fließt.
Ich sage zu Mohammad: „halte das Boot an, wir müssen zurück, es ist sehr gefährlich. Wir sind zu schwer und es kann böse enden.“ Plötzlich gibt es eine sehr große Diskussion, die Mehrheit wollte es riskieren und weiterfahren und einige wenige wollten es nicht. Plötzlich sagt Mohammad: „Ich werde keine Verantwortung übernehmen und ich fahre jetzt mit dem Boot zurück ans Ufer.“ In diesem Moment zieht ein junger Afghane namens Reza ein Messer und sagt zu ihm: „Entweder du fährst weiter oder ich bringe dich um und steuere das Boot selbst.“ Mohammad startet den Motor neu und fährt plötzlich los.
Ich sage: „Schneidet zwei Wasserflaschen in der Mitte durch und jeder schnappt sich eine Hälfte und versucht das Wasser aus dem Boot zu schöpfen.“ Später erzählte Mohammad mir: „Ich wollte gerade ins Wasser springen und einfach zurückschwimmen, aber ich konnte nicht einen verrückten Mann das Boot voll mit Frauen und Kindern steuern lassen. Also beschloss ich zu fahren.“
Wir fahren weiter und nähern uns dem Ziel. Die Nacht ist ruhig, der Himmel sternenklar und eine unheimliche Stimmung ist an Bord. Plötzlich bemerkt eine Frau, dass unser Boot Luft verliert und sie hat verdammt recht. Das Boot hält dem Druck und dem Salzwasser nicht stand. Das Boot sinkt langsam ab und nur wenige hundert Meter vor der Ziellinie ist kein Boot mehr da. Ich höre nur die Schreie um Hilfe. Ich schreie laut: „spart Kraft und schwimmt hinter mir her. Versucht ruhig zu atmen und nicht die Orientierung zu verlieren. Achtet auf die Älteren und Kinder.“ Ich fange an zu schwimmen und kämpfe mit mir, nicht hinter mich zu schauen. Ich will niemanden sterben sehen.
Ich will nur überleben. Ich schwimme wie ein Profisportler. Plötzlich habe ich eine magische Kraft. Ich fühle nichts, keine Kälte, kein Salz und keinen Schmerz. Ich sehe nur das blinkende Licht und schwimme weiter. Ich höre nichts mehr. Wie ein Roboter, der nur schwimmen kann und sonst zu nichts fähig ist. Nach ein paar hundert Metern Schwimmen, so kommt es mir zumindest vor, erreiche ich die Ag. Minas, Chios Griechenland. Ich komme aus dem Wasser raus und setzte mich auf einen Felsen. Ich kann nichts mehr tun und plötzlich habe ich einen Black-out.
Ich habe nicht einmal den Sonnenaufgang bemerkt. Auf einmal spürte ich eine zitternde Hand auf meiner Schulter- es ist Mohammad und er sagt: “Ali stehe auf mein Lieber wir haben es geschafft. “
Am 05.10.2014 erreichten Mohammad, 11 andere Menschen und ich die Küste und 14 weitere Menschen, darunter Frauen und Kinder, starben. Am schlimmsten war, dass eine Mutter ihre Weste öffnete und sich ertrinken ließ, als sie merkte, dass ihre kleine Tochter tot war. Das haben mir andere Überlebende erzählt.
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Esthers Koffer
Lien, 21 Jahre, stammt aus München. Ihre Großeltern und Urgroßeltern waren alle Überlebende des Holocaust oder wurden ermordet. Lien erzählt die Geschichte ihrer Urgroßmutter welche auf Grund ihrer jüdischen Herkunft 1936 gezwungen waren, aus Berlin zu fliehen, um ihr Leben zu retten. Lien ließ sich von einem Reisekoffer Beckmanns anregen. Dieser steht in der Ausstellung, abgestoßen, abgeschabt und mir Reiseaufklebern versehen.
5. October 1935
Liebste Mama,
nach der schwierigen Entscheidung, nicht zu euch nach Polen zu kommen, sondern meinen Geschwistern zu folgen, bin ich nun hier auf See. Obwohl ich traurig bin, nicht bei euch zu sein, bin ich froh, diesem Wahnsinn in Berlin zu entkommen.
Ich musste mich erst einmal sammeln, denn am letzten Abend vor meiner Abreise bin ich nach nebenan zu meiner Freundin Anna gegangen, damit ich dort in Sicherheit die Nacht bleiben kann. Das hatte sie mir versprochen. Zu meinem Entsetzen hat sie mir nicht einmal mehr die Tür geöffnet. Mama, ich war so erschrocken und hatte große Angst. Ich hatte keine andere Wahl, ich musste die Nacht auf der Parkbank verbringen. Glaub mir, ich habe kaum ein Auge zugetan. Jedes Licht und jedes Geräusch erinnerte mich daran, was geschehen würde, wenn mich jemand entdeckt.
Zum Glück schaffte ich es am nächsten Morgen auf das Schiff. Ich war so unendlich traurig, dass sogar meine beste Freundin Anna mir den Rücken zugewandt hatte. Das hat mir wirklich gezeigt, dass ich sofort weg muss aus Deutschland und dass ich um mein Lebe laufe.
Sorge Dich nicht liebe Mama, ich bin jetzt in Sicherheit wohlauf. Ich hoffe, dass es dir in Kalisz gut geht und ich vermisse euch drei so sehr! Lass uns beten, dass bessere Tage auf uns zukommen. Ich kann es kaum erwarten, von dir zu hören.
Ich liebe Dich,
Deine Esther
19. Februar 1936
Liebste Mama,
Ich habe die lange Reise hierher nun gut überstanden und bin jetzt sicher in Palästina angekommen. Zuerst wurde in ein Kibbutz gebracht. Es war wirklich nichts für mich. Stell dir vor dort haben sie mir als erstes meine ganze Kleidung weggenommen und sie dann an andere verteilt. Die Arbeit im Kibbutz war so schwer und es gibt schrecklich viele Mücken hier, deshalb haben viele Fieber bekommen. Hab keine Angst um mich liebste Mama, denn ich bin nicht mehr dort. Sobald ich konnte bin ich mit dem Bus nach Tel Aviv gefahren. Ich habe eine Bleibe gefunden mit zwei anderen Mädchen aus Berlin und sie helfen mir jetzt eine Arbeit zu finden.
Einerseits muss ich mich wirklich glücklich schätzen, dass ich es aus Deutschland geschafft habe, das ich immer als meine liebste Heimat betrachtet habe. Andererseits kann ich nicht in Worte fassen, wie verletzt ich bin von dem, was uns Deutschland antut und was auf den Straßen Berlins passiert und wie sich einstige Freunde jetzt gegen mich gewendet haben. Alle anderen Menschen, die ich hier spreche berichten das Gleiche. Alle sind erschüttert und haben große Angst um ihre Familien.
Ich vermisse euch so sehr! Pass gut auf dich auf und lass hoffen, dass bessere Tage vor uns liegen.
Mama bitte schreibe mir bald!
Deine dich liebende Tochter Esther
Liebste Mama,
Ich sitze an meinem Tisch, den ich mir aus einer Orangenkiste zusammengebastelt habe und habe einen Moment gefunden dir zu schreiben. Mein Zimmer teile ich mit einem anderen Mädchen. Ich habe eine Arbeit als Bedienung in einem Restaurant gefunden und sie arbeitet in einer Fabrik in der Nacht also wechseln wir uns mit unserem Schlafplatz immer ab. Seit ich im Restaurant arbeite habe ich keinen Hunger mehr. Es ist zwar nicht leicht sich an diese Hitze, Feuchtigkeit und den Mücken zu gewöhnen, aber es könnte schlimmer sein, hab ich nicht recht? Ich bin am Leben und das zählt. Wo sind die schönen Tage in Berlin? Ich habe so schrecklich Angst um euch, man hört schreckliches aus Europa! Bitte bleibt nicht dort. Ich glaube allen Juden droht sehr große Gefahr. Bitte versucht zu kommen! Bitte bitte schreibe mir gleich und oft.
Ich liebe Dich
Esther
Esthers Eltern und ihre kleine Schwester wurden nach Auschwitz deportiert und vergast.
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Gulatschn
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Böhmen zu einer Vertreibung deutscher Bevölkerung. Diese wurde im Rahmen der "Prager Deklaration" angeordnet, die von der tschechoslowakischen Regierung im Juni 1945 verabschiedet wurde. Unter den 2,5 Millionen Vertriebenen befand sich auch mein Grossvater. Mit sich brachte er nur wenige Klamotten und ein ganz besonderes Rezept.
Früher feierten wir große Familienfeste. Sippenfeste fast. Oder sollte man sagen: Gulatschnfeste? Denn im Mittelpunkt eines Gewimmels von Böhmerwäldlern, die jeden herzten und küssten, fidel waren, aber jedes Mal in Tränen ausbrachen, wenn die ferne Moldau erwähnt wurde, türmte sich immer ein Berg von Gulatschn.
Immer wenn im Leben Jesu etwas Besonderes passiert war, Auferstehung, Kreuzigung, Geburt, sowas, gab’s Oster-, Karfreitags-, oder Weihnachtsgulatschn. Immer wenn im Leben eines Böhmerwäldlers etwas Besonderes passiert war, Tod, Hochzeit, Erstkommunion, sowas, gab‘s Feier- oder Trauergulatschn. Der Gleichklang der Sätze ist absichtlich gewählt und soll den liturgischen Charakter des Gulatschn unterstreichen.
Wie musste ein Gulatschn sein? Erstens quadratisch. Es wurde ein Teigquadrat von etwa einer Elle Seitenlänge ausgerollt, und mit Quark bestrichen. Dann wurden alle vier Ecken eingeschlagen, so dass wieder ein Quadrat entstand, jetzt von der Größe einer Handspanne.
Fürs Buffet wurde jeder Gulatschn in Viertelgulatschn zerschnitten. Zweitens praktisch: Diese Form ermöglichte es, Gulatschn flächendeckend auf Servierbrettern anzuordnen und bis zur Höhe von fünf Etagen zu stapeln. Die Viertelgulatschn ergaben mundgerechte Stücke, jedes mit Teigecke als Griff und Quarkecke zum Abbeißen. Kein Wunder, dass Gulatschn beliebt waren, mussten sie schließlich, drittens, auch gut schmecken. Dies wurde durch Rosinen und Streusel garantiert. Soweit die Tradition.
Sowenig die Böhmerwäldler die runde Form der Hostien hinterfragten, zweifelten sie die quadratische Form der Gulatschn an. Das ist übrigens schnell erzählt: Es begann mit Schwierigkeiten bei der Nachfolgeregelung. Durch ungeschriebene Gesetze, auch unausgesprochene, sogar unbewusste und nie hinterfragte, war geregelt, wer die Wandlung von Mehl, Zucker und Quark zum Gulatschn vollziehen durfte. Einst war meine Urgroßmutter die einzige Bevollmächtigte. Meine Großmutter, obwohl exzellente Bäckerin, fühlte sich nicht befugt. Sie war nur angeheiratete Böhmerwäldlerin und außerdem eine Stadtmadam.
Aber auch mein Vater kam nicht in Betracht. Immer wenn er etwas kochte, wurde ihm bescheinigt, dass alles schön aussah, aber nichts schmeckte. Deshalb wurde ihm schon früh die Rolle als Prälat schmackhaft gemacht. Prälat? Nicht verwechseln mit Proletariat! Prälat ist ein katholischer Würdenträger. Statt für die Zubereitung der Gulatschn wäre er für die Wandlung der Hostien zuständig gewesen. Geschmack hätte da keine Rolle gespielt. Als dagegen mein verwegener Onkel Rafi die ersten Gulatschn präsentierte, wurden sie überraschend positiv aufgenommen. Der nächste folgenschwere Fehler! Eigentlich hatte Rafi auf ausgedehnten Reisen viel mehr Interesse für Indien gezeigt, als für den Böhmerwald. Aber er war praktisch veranlagt, das zählte. Während mein Dad in den Kreis der Hostie verwiesen wurde, traute man meinem Onkel die Quadratur des Gulatschn zu. Mit katastrophalen Folgen! Zu Rafis Verteidigung: Er wollte seine Gulatschn gar nicht anbieten. Er versteckte sie geradezu, in einem hinteren Winkel der Speisekammer. Meine Großeltern witterten sie aber, weil sie so köstlich dufteten. Sie verströmten ein schwer süßliches Aroma. Sahen auch etwas ungewohnt aus: über und über grün. Selbst das war meinen Großeltern keine Warnung. Beide bissen sie in ihr Quadrat. „Guade Gulatschn!“, seufzten sie geradezu. Für die Menge Cannabis, die sie dabei unwissentlich reinzogen, hätten sie mindestens vierzehn Tage Sozialstunden ableisten müssen.
Und
wie waren sie drauf? Meinen Großvater kann ich nicht fragen, er lebt
nicht mehr. Meiner Großmutter
gegenüber darf ich die Frage nicht einmal anrühren. Aber vielleicht
ist der Schurke
selbst bereit für seine Taten einzustehen. Da er sich gerade nicht
in Indien, Bali oder
Lateinamerika herumtreibt, treffe ich ihn in einem Münchner Kaffee.
Inzwischen ist er ungefähr
so alt ist wie meine Großeltern damals, kann den Effekt des
Gulatschn auf seine Mutti
und seinen Vädi also authentisch schildern: Er erhebt sich vom
Café-Hocker. „Mir ist so
…, mir ist so …“, beginnt er den Vädi nachzuspielen. „So, so
zweierlei“ Dabei schnauft er tief,
und schwenkt die Arme wie Elefantenrüssel. „Ich hab an Krampf! Ich
hab an Krampf!“, hat
dagegen die Mutti gerufen und ist dabei in heftiges Gekicher
ausgebrochen. „Dabei ist sie
den Gang entlang gehüpft, auf einem Bein“, Rafi führt es vor,
„und immer mehr ins Kichern
geraten!“. „Danke, danke!“, sag ich. Ich kann mir inzwischen
ein ganz gutes Bild von dem
Ereignis machen. Die anderen Kaffeegäste ebenso. Mein Großvater,
ein sonst selbstsicherer
Macher, gerät ins Zwielicht. Seine würdevolle Frau mutiert zur
Ulknudel.
Damit war der Tiefpunkt des Böhmerwäldlertums erreicht. Inzwischen ist nicht mehr viel davon übrig. Die dritte Generation, assimiliert, heiratet mit Kirschtorte. Auch ich habe meine Mühe mit dem Böhmischen: „Boemerwaeldler“ tippe ich ein, weil meine britische Tastatur keine Umlaute bietet. Zurzeit halte ich mich in Glasgow auf. Gibt’s hier was Vergleichbares zum Gulatschn? Deep fried Mars-Bars gelten als Delikatesse. Also die Schokoriegel aus dem Supermarkt in heißem Fett frittiert. Dagegen Gulatschn. Rosinen. Streusel. Seit meiner Kindheit habe ich keinen mehr zwischen die Zähne bekommen. „Gulatschn“, schon das Wort.
Mir wird auf einmal so bömerwäldlerisch. Zucker her! Mehl! Ich werde den Gulatschen updaten! In veganer Version! Trau ich mir zu. Bin praktisch veranlagt.
Rezept:
Zutaten:
Für den Teig:
1 Packung Hefe
3/4 Tasse Hafermilch
½ Tasse Zucker
⅓ Tasse Magarine
1 tsp Salz
2 tbsp Leinsamenmehl mit 5 tbsp Wasser verrührt
4 Tassen Mehl
Für die Füllung:
500g Veganer Quark (alternative: Veganer Jughurt mit 2 tbsp Speisestärke)
2 Packungen Vanillezucker
Marillen Marmelade
Rosinen
Für die Streussel:
1 1/2 Tassen Mehl
1/2 Tasse Zucker
1/2 Tasse kalte vegane Margarine
Zubereitung:
Teig:
Die Hefe in der warmen Milch zergehen lassen
Zucker, Magarine, Salz, und Leinsamen Mischung hinein mischen
Mehl hinzufügen und mindestens 5 Minuten lang gut einarbeiten
Teig abdecken und 1-2 Stunden gehen lassen
Teig noch einmal gut durchkneten. Falle er an der Arbeitsfläche festklebt, diese mit Mehl
bestäuben und mehr Mehl in den Teig einarbeiten
Teig in ein ca 1cm dickes Rechteck ausrollen, und dann in Quadrate mit Seitenlänge von ca
15cm zurechtschneiden
Veganen Quark mit Vanillezucker mischen
Jedes Rechteck mit 5 tbsp Quark, dann 1 tbsp Marmelade und Rosinen nach belieben füllen
Die Ecken der Rechtecke in die Mitte klappen, so dass erneut ein Rechteck entsteht.
Streusel Zutaten zusammen mischen
Gefüllte Teig Rechtecke bestreuseln
in den Ofen bei 180 Grad für ca 30 Minuten
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