Mittwoch, 15. Februar 2023

Tag 1058 mit Corona, Tag 354 des Krieges und: Nachtrag und Lesevorschlag

Heute ein Nachtrag zum gestrigen Glückwunsch. Die beiden Bücher unten sind Kluges erste Veröffentlichungen (außer natürlich der Dissertation) 1962 bzw. 1964. Die fotografierten Exemplare sind beinahe ebenso steinalt, von ihm, neben dem gestern gezeigten Konvolut, bei der letzten Lesung im Literaturhaus signiert. Dort zeigte Herr Kluge sich gerührt, dass H. alle Schinken, auch die ältesten, in zwei Tüten anschleppte.

 

H. benützt jetzt eine viel geschätzte Quelle, das KLG. Besser hätte er es selbst niemals auf den Punkt bringen, zusammenfassen können.

"Bereits die Geschichten aus dem ersten Prosaband „Lebensläufe“ von 1962 kreisen um die „Frage nach der Tradition“, um die Bruchstellen und noch offenen Wunden, die die jüngere deutsche Geschichte, der Faschismus, in die Lebensläufe einzelner Menschen hinein gerissen hatte. Kluge (re-)konstruiert hier Schicksale, die sich – so oder ähnlich – tatsächlich zugetragen haben oder sich aber hätten ereignen können, und die gemeinsam, wie der Autor im Vorwort hinzufügt, „eine traurige Geschichte“ ergeben. Die Geschichte der Anita G. etwa, die den Stoff für seinen ersten Langfilm „Abschied von gestern“ (1965/66) lieferte, begegnete ihm im Rahmen seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt. Sie beginnt mit den Sätzen: „Das Mädchen Anita G. sah, unter dem Treppenaufbau hockend, die Stiefel, als ihre Großeltern abgeholt wurden. Nach der Kapitulation kamen die Eltern aus Theresienstadt zurück, was keiner geglaubt hätte, und gründeten Fabriken in der Nähe von Leipzig. Das Mädchen besuchte die Schule, glaubte an eine ruhige Weiterentwicklung. Plötzlich bekam sie Angst und floh in die Westzonen.“ Die Geschichte, die Kluge erzählt, ist die Geschichte dieser Flucht: Anita G. begeht Diebstähle, wird gefasst, kommt ins Gefängnis, gerät in die Fänge einer übermotivierten Bewährungshelferin, flieht erneut, wird schwanger und geht schließlich, weil sie nicht weiß, wo sie ihr Kind zur Welt bringen soll, freiwillig ins Gefängnis." (Originalquelle: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Stand: 01.04.2022)

" Der Stalingrad-Roman „Schlachtbeschreibung“, den Kluge für die „Chronik der Gefühle“ einmal mehr überarbeitet und um neue Erzählsegmente ergänzt hat, zerfällt vollends in eine polyphone Struktur verschiedenster Tonlagen, in der jede Spur einer kohärenten Erzählerposition getilgt ist. Aus realen und erfundenen Dokumenten, fragmentarischen Momentaufnahmen und Kommentaren wird Stalingrad als ein multiperspektivischer und ungleichzeitiger Geschehenszusammenhang rekonstruiert, dessen Ursachen, je nach Standpunkt, entweder „72 Tage oder 800 Jahre“ zurückliegen. Wie in „Abschied von gestern“ wird auch hier die Frage aufgeworfen, wie es zu der Katastrophe kommen konnte: „Was ist das für eine Vernunft (…), die die Leute davon abhält, in einer solchen Situation einfach auseinander zu laufen?“ Kluges Antwort unterläuft die kalte Logik von Befehl und Gehorsam, indem er den subjektiven Faktor, den „Kern der Wünsche“ ins Spiel bringt: Es ist weniger die Vernunft, sondern „vielmehr sind es Arbeitskraft, Hoffnungen, Vertrauen, der unabweisbare Wille, in der Nähe des Realitätssinns zu bleiben – einmal durch die Mangel von 800 Jahren Vorgeschichte gedreht –, vor allem: in Gesellschaft zu verharren, der die 300 000 Mann auf die Märsche in die Steppen Südrußlands führt, in eine Weltgegend, an ein Flußufer, an dem keiner dieser Menschen irgend etwas zu suchen hatte. Dies ist organisatorischer Aufbau eines Unglücks. Es baut sich quasi fabrikmäßig, in den Formen der Staatsanstalt auf; die menschlichen Reaktionen darauf bleiben privat. Sie addieren sich nicht fabrikmäßig.“ (Originalquelle: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Stand: 01.04.2022)

1 Kommentar:

  1. es gibt viel zu selten ruhig und klug erzählte geschichten im kino, bei uns ist es immer laut und massengeschmack. danke für die würdigung von herrn kluge. lieben gruß, roswitha

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