Samstag, 21. Dezember 2024

1032 T Krieg in der Ukraine, 1 Jahr 42 T Krieg in Gaza/Israel/Libanon und: Nachtrag zu Friederike Mayröcker

46 Jahre lang ein symbiotisches Paar: Friederike Mayröcker und Ernst Jandl 1969 in Wien ©Bild und _unterschrift NZZ)

Ihre Stimme macht alles tröstlicher

©Süddeutsche Zeitung, 20.12.2024, S. 10 Feuilleton/Portrait

 Wenn man einmal in die Welt der Dichterin Friederike Mayröcker eingetaucht ist, kann man die Welt nie mehr anders sehen als in ihren Bildern. Vor 100 Jahren wurde sie geboren. Von Clemens J. Setz

Die in diesem Jahr stattfindende Hundertjahrfeier ihrer Geburt ist ein im Falle von Friederike Mayröcker geradezu maßgeschneiderter Anlass zu diebischer Freude, denn sie ist und war für mich immer eine jener Autorinnen, die man sich, aufgrund ihrer Leuchtkraft sowie ihrer würdevollen und nie abgelegten Gegnerschaft gegenüber dem Tod, ohnehin niemals als „gestorben“, sondern bloß immer nur als geboren vorstellen kann, als, wie es in „brütt oder die seufzenden Gärten“ so schön heißt, von „altersher geboren und an die Erde gebunden“. Und ihre Geburt, dieser jedem Wesen höchstens ein einziges Mal zugestandene Triumph über das Nichtexistieren, geschah am 20. Dezember 1924.
Da war Rilke noch am Leben. „The Great Gatsby“ und „Mrs Dalloway“ waren noch nicht erschienen. Man zahlte in Österreich noch mit Kronen (aber nur genau einen Tag lang, bis zum 21., da kam schon der Schilling). „Etwa zur 14. Stunde“ sei es geschehen, so schrieb die Dichterin noch in einem sehr späten Gedicht, „das unfaszbare (das blutige) war geschehen : ich war geboren : es hatte mich vorher noch nie gegeben.“ Allerdings:

ich erinnere mich nicht an mich,
ich erinnere mich nicht an diesen Tag ich
sprach mit Engelszungen,
6 Jahre später kam ich zu den Englische
Fräulein: sie lehrten
mich das Lesen und das Schreiben was mich glücklich machte in
diesem unaufhörlichen Wald.

Ich habe Friederike Mayröcker selbst leider nie näher oder gar freundschaftlich kennengelernt, nur einmal gab es eine kurze persönliche Begegnung bei Kaffee und Kuchen. Und nur ein einziges Mal war ich in ihrer Wohnung, allerdings bereits zu spät, als Figur ihrer Nachwelt, und blickte lange auf die der Wohnung gegenüberliegenden Hoffenster.
Auf diese Fenster wurden einige der schönsten Gedichte in deutscher Sprache geschrieben. Über die Hausdächer ragten die Wächter der Stadt: einige hohe, in ihre typischen Storchschnabeldialoge versunkene Baukräne, und quer über den Hof war ein breitmaschiges Taubennetz gespannt, darin ein einzelnes Herbstblatt, wie hineindiktiert. Von hier aus also wurde einst das Universum entdeckt. Jetzt kannte ich zumindest die Stelle.
Hundert Jahre. Ein Jahr. Ein paar Monate zu spät. Was die Zeit für Unfug anstellt! Friederike Mayröcker wusste davon zu erzählen wie keine andere, etwa in einem Gedicht auf die Sonnenfinsternis des Jahres 1999. Achten Die darauf, wie winzig kleinund kümmerlich die d arin genannte Spanne von siebenhundert Jahren am Ende dasteht.

erst wieder in 700 Jahren sagt ER
1 Jahrhundert Ereignis sagt ER
solltest du nicht versäumen sagt ER
auf dem Balkon Er setzt die Spezialbrille
auf verkrieche mich<>mit dem Hündchen in der
Schreibtischschublade
die Vögel verstummen
1 Jahr danach SEINE ewige Finsternis

Was sind „siebenhundert Jahre“, wenn der Mensch, der sie benennt, plötzlich nicht mehr da ist? In Mayröckers Dichtungen wird die Zeit, das Leben, immer nur menschlich gemessen, am Körper, an den Gedanken und Verszeilen im Kopf, an den Phänomenen und ihrem Geheimnis. So kann man in dem 2010 erschienenen Buch „ich bin in der Anstalt“ über die Feststellung stolpern, dass die eigene Achselhöhle bis ins hohe Alter ungeküsst blieb, eine so zarte und erschütternde Beobachtung, dass einem beim Lesen ganz zeitlos zumute wird. Im dritten Band der „Magischen Blätter“ heißt es über das Altern: „kann sein daß, wir werden nicht mehr geliebkost“, und in einem späten Gedicht:

ich messe den Blutdruck, um
Mitternacht, aber der Puls schlägt
irgendwo drauszen, Küche vielleicht

Zeit- und Körpergrenzen scheinen jeden Sinn für Kameradschaft verloren zu haben. Und dann geht in derselben Küche, in einem anderen Gedicht, sogar noch viel ärgerer ontologischer Slapstick vor sich: 

irgendwo, ich glaube Küchentisch, steht
das Wort BESEELT : zum Sonderling
geworden, den man
belächelt wie dessen Schreiber.
Und schließlich:
wenn ich Kriechspuren
ziehe über das Lager, das frische Bettuch zu spannen zum Beispiel /
man lebt ja als Hund

Ach, ja, diese heilige Formel „man lebt ja als Hund“, ich sage sie andauernd, zu allen möglichen Gelegenheiten, auch rein innerlichen. Selbst meinen Bekannten fällt es mit den Jahren immer mehr auf, wie sehr ich in meiner Art, Witze zu machen, oder auch bei kurzen Selbstgesprächen vollkommen „aus Mayröcker“ zu bestehen scheine. Es denkt sich nun mal so viel leichter in ihren Sätzen als in „eigenen“. Etwa folgende Trostformel (aus ihrem Gedicht Winterserie, 2“), die man sich nach jedem häuslichen Streit aufsagen kann: „wir als Heilsgestöber / einer Kammerszene“. Oder folgende, mir fast jeden Tag durch den Kopf gehende Wahrnehmung: „während in den brennenden Falten des Morgenmantels / spacierstockmäsziger Schatten waltet“.

Nie wieder kann man einen von einem Menschen ausgefüllten Morgenmantel, der einem im Korridor vorm Badezimmer entgegenkommt, anders wahrnehmen, als so: ein Büschel aus spazierstockförmigen Schatten. Oder wenn ich wieder mal „frühschädelig“ (aus „brütt“) durch den Vormittag renne, oder wenn in der entsprechenden Jahreszeit „die Ahorn Nüstern fallen“, oder wenn einem beim Hören einer alten Opernaufnahme auf einmal „die Milchhaut der Arie“ (ebenfalls aus „brütt“) aufzufallen beginnt. Gelegentlich bastelt mein Kopf sogar selbst kleine mindere Mayröcker-Imitate, die meinen Alltag begleiten, etwa den beim Staunen über die Höhe eines neu errichteten Gebäudes in mir entstandenen Satz: da hebt’s einem das Trapezseil unter der Zunge an, oder neulich, als ich meine Tochter vom Kindergarten abholen ging und, da ich zu früh da war, noch ein paar Minuten vor dem Gebäude auf und ab ging, die plötzliche Einsicht: die Geborgenheitspolizei geht um. Oder, beim Anblick der alten und jungen Skater im Währinger Park, das plötzliche Mayröcker-Fanfiction-Satzfragment in meinem Kopf: herumkurvend, in wändeloser Geisterbahn.

So leben und wirken die Satzformen weiter – und das ist ein großes Glück. Aber bei aller dergestalt angedeuteten Unendlichkeit trifft uns doch nichts so stark wie das in Mayröckers Dichtung immer wieder festgehaltene Mysterium des zum ersten Mal Erscheinenden, selbst bei einem zufälligen Blick in ein Tiergeschäft offenbart es sich:

im Zoofenster an der Strasze
rehbraunes Hündchen, frischgeboren,
liegt schlafend auf linker Wange

Und in dem letzten zu Lebzeiten erschienenen Buch „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ erfahren wir: „wir schreiben den 9. November 2018 circa 30 Jahre nach dem Tag als Mama am offenen Korridorfenster des Wiener Neustädter Krankenhauses stand und den Säugling in den Armen der Ursula B. streichelte (eng. to caress!). Welcher, heute = Ursula B.’s Ebenbild! = mich begrüszte nämlich als mein zukünftiger Hausarzt mich begrüszte etc., so dasz ich jene Tränen welche ich damals beim Anblick des Säuglings vergosz nun, nach circa 30 Jahren, wiedervergosz, ein Enigma, sage ich, Mama nämlich schon lange begraben“

Alfred Polgar schrieb einmal: „Nicht geboren werden ist das Beste, sagt der Weise. Aber wer hat schon das Glück? Wem passiert das schon?“ Dies ist wahrscheinlich die kürzestmögliche Entgegnung auf die angeblich weise Behauptung. Friederike Mayröckers Werk dagegen ist die längste – und die eigentlich richtige. Es beweist uns, dass es nicht nur bedauerlich, albern und unsinnig ist, sondern im Grunde auch verboten sein müsste, niemals geboren worden zu sein.

Der Schriftsteller Clemens J. Setz lebt in Wien. Zuletzt erschien sein Buch „Das All im eignen Fell: Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“ bei Suhrkamp.

Quellenangabe: Eintrag "Ihre Stimme macht alles tröstlicher" aus Munzinger Online/Süddeutsche Zeitung, URL:http://www.munzinger.de/document/26A126159691 (abgerufen von Münchner Stadtbibliothek am 21.12.2024)
Originalquelle: Süddeutsche Zeitung (20.12.2024), Feuilleton, S. 10
Alle Rechte vorbehalten. © Süddeutsche Zeitung GmbH, München und Munzinger-Archiv GmbH, Ravensburg

Freitag, 20. Dezember 2024

1031 T Krieg in der Ukraine, 1 Jahr 41 T Krieg in Gaza/Israel/Libanon und: Friederike Mayröcker 100

Die Grande Dame der deutschen Lyrik würde heute ihren 100. Geburtstag feiern. H. hatte 2006 das Glück, sie im Lyrikkabinett zu hören. Sie las, mit verhaltener Stimme und Wiener Einschlag, eine ganze Stunde lang und beantwortete noch Fragen, damals mit 82 Jahren. 6 Jahre zuvor hatte sie ihr Alter Ego, Ernst Jandl, verloren. Sie trauerte den Rest ihres Lebens.

 Friederike Mayröcker (2015)

Rom, 7. November 1994

durch die Viale Bruno Buozzi und am Hotel Lord Byron
vorüber, hinüber zum Kiosk, fragen ob Ansichtskarten von Rom,
der Mann mürrisch und mit seinen Händen mich abweisend, und
die hohe Platanenallee umschlungen vom zarten Dunst
des November wo ich lief und die Gesichter erblickte, die
schwebenden Fahrzeuge, leichtes Nieseln und kehrt machte
die andere Straßenseite zurücklief, mich nicht zu
verirren, während die Gefühle losgelassen, emporschwingend
die Wälder ohne Zögern mir folgten wie der tägliche
Aderlaß der Gedanken, wie die täglichen
GEDANKEN TOD SÜNDEN, verlispelt, und Abklatsch
(Hitzegestalt), auf dem runden Papierteller
mit alten Kaffeeflecken der poetische Furor : Baudelaire
in der Mundhöhle

für Daniela Riess-Beger

Mittwoch, 18. Dezember 2024

1029 T Krieg in der Ukraine, 1 Jahr 39 T Krieg in Gaza/Israel/Libanon und: Friedhofspaziergang und ein Gedenken

Bei wechselndem Wetter ein Platz der Ruhe.

Jeder der Brunnen auf den Münchner Friedhöfen ist ein Unikum.

Der Friedhofskitsch zieht auch ein.

Gedenken: Siehe Hagalil.

Dienstag, 17. Dezember 2024

1028 T Krieg in der Ukraine, 1 Jahr 38 T Krieg in Gaza/Israel/Libanon und: Herbst-/Winterarbeiten

Der Ahorn stirbt seinen Tod, eine Hainbuche schwächelt und eine andere hat einen Pilz. Der Klimawechsel macht ihnen zu schaffen. Zwei Eichen, eine Kirsche und zwei Buchen sind gesund.

Mit Hilfe der guten Kettensäge

Samstag, 14. Dezember 2024

1025 T Krieg in der Ukraine, 1 Jahr 35 T Krieg in Gaza/Israel/Libanon und: The Village Green

Die Kinks, eine der unterschätzten britischen Rockbands, haben viele Geschichten über Nordlondon und das Leben der einfachen Leute geschrieben, standen aber immer im Schatten der Beatles und Stones.

"The Kinks Are the Village Green Preservation Society" war eines der ersten Konzeptalben der 60er Jahre. "Village Green" läßt sich am ehesten mit Anger oder Allmende vergleichen.

 

Donnerstag, 12. Dezember 2024

1023 T Krieg in der Ukraine, 1 Jahr 33 T Krieg in Gaza/Israel/Libanon und: 12 von 12

Frau Caro lädt ein.

Christkindlmarkt im Pelkovenschlössl

Keine Händler, alles Menschen, die das Jahr über basteln

Ein Mädchen verkauft jedes Jahr Weihnachtskarten samt Umschlägen

Honigprodukte von Moosacher Bienen
Filztäschchen

  Am Schluss ins Café

 

 Zwei St. Martins-Kirchen

 

 Das Schlössl von hinten

Montag, 9. Dezember 2024

1020 T Krieg in der Ukraine, 1 Jahr 30 T Krieg in Gaza/Israel/Libanon und: Lennon/Ferlinghetti

Gestern vor 44 Jahren wurde John Lennon ermordet. Ein Gedicht von Lawrence Ferlinghetti:


John Lennon In The Porto Santo Stefano
 

A trattoria in the porto
an astonishingly couple enters
in shorts
He`s got a fantastic torso
long hair and a golden headband
She`s got long flaxen hair
German hippies maybe
Bourgeois back home
Another couple saunters in and joins them
Dark hair and jeans
Comme ils sont beaux
Not one of them is gay
though he`s the most beautiful
He`s got such a smile
Some story he`s telling
What could it be
Something about John Lennon
lost in a mix of Tuscan and German
Comme elle est belle
with her empty eyes
the Germans very spaced out
the Italians very "with it"
But none of them look very happy
Perhaps it`s just youth
I am trying to think of a Lennon line
to sum up the situation
There isn`t any
He didn`t live long enough to give us
the mad eternal answer