Donnerstag, 2. April 2020

Tag 21 und Ausgangsbeschränkung 13

Die erste Blüte der Kuhschelle im Obstgärtchen.

Mit der Osteopathin telefoniert. Sie hat seit zwei Wochen ihre Praxis geschlossen.

Rolf Dieter Brinkmann wäre am 16. April 80 Jähre alt geworden, aber er wurde 1975 in London von einem Auto in die Luft geschleudert.
Ein außergewöhnlicher Dichter.
H. hat die Bücher, die er von ihm hat, hervor gekramt und darin geblättert. Sie sind so alt und auch angestaubt, es kamen ihm die Seiten schon entgegen, was aber nichts macht. Darin geblättert und in der Morgensonne gelesen. H. ist wieder genauso gepackt von der Lektüre wie damals, vor Jahren.



















Hier die Vorbemerkung des Autors aus dem Gedichtband "Westwärts":

  Vorbemerkung

Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht
weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen
weiter, die Rock`n`Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen
weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen
weiter, Tag und Nacht machen weiter, der Mond geht auf, die Sonne
geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht
auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuser-
wänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen, die
bewegt werden, Bewegungen in den Zimmern, durch eine Wohnung,
wenn niemand außer einem selbst da ist, Wind weht altes Zeitungs-
papier über einen leeren grauen Parkplatz, wilde Gebüsche und
Gras wachsen in den liegengelassenen Trümmergrundstücken, mit-
ten in der Innenstadt, ein Bauzaun ist blau gestrichen, an den
blauen Bauzaun ist ein Schild genagelt, Plakate ankleben verboten,
die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter, die Fahrstühle
machen weiter, die Häuserwände machen weiter, die Innenstadt
macht weiter, die Vorstädte machen weiter. Einmal sah ich eine
Reklame für elektrische Schreibmaschinen in einem Schaufenster,
worin Büromöbel ausgestellt waren. Ein Comicbildchen zeigte,
wie jemand Zeichen in eine Steinplatte schlug, und eine Fotografie
zeigte eine Schreibmaschine. Ich war verblüfft. Wo ist der Unter-
schied, fragte ich mich. Sie wollten mir doch damit einen Unter-
schied klar machen. Hier sitze ich, an der Schreibmaschine, und
schlage Wörter auf das Papier, allein, in einem kleinen engen
Mittelzimmer einer Altbauwohnung, in der Stadt. Es ist Samstag-
nachmittag, es ist Sonntag, es ist Montag, es ist Dienstagmorgen,
es ist Mittwoch, es ist Donnerstag, es ist Freitagnachmittag, es ist
Samstag und Sonntag. Es ist ein erstaunliches Gefühl, meine ich,
das den Verstand erstaunt. Nun erinnere ich mich, an mich selbst,
und da gehe ich eine lange Strecke zurück, gehe über warme
Asphaltschichten von Seitenstraßen, die Turnschuhe kleben daran,
aus einer Musikbox, ganz weit zurück, kommt Rock`n`Roll-Musik
und läßt mich die lateinische Übersetzung vergessen. Ich haue ab,
trete über verharschte Wiesen im Winter, außerhalb des Ortes,
schleppe die Schultasche mit den Büchern mit mit herum, bis
Mittag ist und ich zum Mittagessen kann, hellweiße kalte Vormit-
tage in Norddeutschland mit den Wetterberichten nach den
Nachrichten. Zwischen den weißen, frischen, zusammengelegten
Bettlaken im Schlafzimmerschrank lag immer eine kleine matt-
schwarz glänzende Pistole, bequem für eine Handtasche. Und wie
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war das Wetter, als ich geboren wurde? Meine Eltern waren jung,
sie sprachen deutsch. Ich mußte das erst lernen, man wächst
immer in eine schon gesprochene Welt rein. Das Lernen macht
weiter. Deutsch macht weiter, Wiesen im Winter und warme
Asphaltstraßen machen weiter, die Straßenecke macht weiter, die
Wetterberichte machen weiter, die Bücher machen weiter. Pistolen,
Schultaschen, Turnschuhe machen weiter. Die Nachrichtensprecher
machen weiter. Der Sonntag macht weiter. Der Montag macht
weiter. Der Postbote macht weiter. Der Dill macht weiter, und die
Blätter machen weiter, die Zwiebeln, die Kuh, die Steine, der Film.
Der Schallplattenspieler, repariert, macht weiter. Auch die Inter-
pretationen machen weiter. Es sind die Bücher. Ich muß bei diesem
Satz sehr lachen. Das Lachen ist angenehm. Als ich in einem gräß-
lich eingerichteten Apartment in Austin morgens gegen fünf Uhr
auf dem vollgepackten Koffer kniete und die Kofferschlösser
zuzukriegen versuchte. hörte ich aus dem Radio ein Lied. das mir
sofort, nachdem es angefangen hatte, gefiel. Ich stelle das Lied,
so wie ich es nach der Schallplatte aufgeschrieben habe, als erstes
Gedicht hierher, denn mir gefällt es noch immer, und ich denke,
daß das Lied gut als Zitat für meine Gedichte paßt. Der Beifall
macht weiter, die Wörter machen weiter, die Knöpfe machen wei-
ter, der Stoff macht weiter, das Marihuana macht weiter, was hat
die Grammatik mit Marihuana zu tun? Das Marihuana war sanft
und würzig. Die teueren Vororte sind durch Stille gesichert. Manch-
mal gibt es dort keine Fußgängerwege, und nur manchmal sieht
man, beim Hindurchgehen, ein erhelltes Fenster, ganz oben, unterm
Dach. Davor werden Bäume bewegt. Im Moment habe ich
keinen Hunger, obwohl ich weiß, daß der Hunger weitermacht,
der Moment weitermacht, die Erde weitermacht, die sozialen
Lagen machen weiter, und der Hund, der in der Nacbbarwohnung
eingesperrt ist und schon den ganzen Morgen bellt, macht
weiter. „Die Erklärung ist sinnlos. Der Finger ist sprachlos", wie
R. D, Laing sagt. Ich blättere durch Bücher. Ich fliege etwas und
sehe: „So wie der Nahrungstrieb sich subjektiv als Hunger und
objektiv als als «Tendenz» zur Erhaltung des Individuums präsentiert,
so der Sexualtrieb subjektiv als Bedürfnis nach Sexualbefriedigung
und objektiv als «Tendenz» zur Erhaltung der Art. Diese «objek-
tiven Tendenzen» sind aber keine konkreten Gegebenheiten,
sondern bloß Annahmen. Es gibt in Wirklichkeit ebensowenig eine
Tendenz zur Erhaltung der Art wie eine solche zur Erhaltung 
des Individuums." Erstaunlicher Wilhelm Reich, schöne Sexualität, die
weitermacht, und tatsächlich, Utopia ist eine Kiste. Das Geld
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macht weiter, und die Zusammenbrüche, wie die Songs weiterma-
chen. Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie
Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreib-
maschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Viel-
leicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug
zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache
und den Festlegungen raus. Mag sein, daß deutsch bald eine tote
Sprache ist. Man kann sie so schlecht singen. Man muß in dieser
Sprache meistens immerzu denken, und an einer Stelle hörte ich,
wie jemand fluchte: Ihr Deutschen mit Euren Todeswünschen,
wenn Ihr sprecht! Bezogen auf die Erfindung der Psychoanalyse
stimmt das. Was für Entzückungen eine Straße entlangzugehen,
während die Sonne scheint. Die Gedichte, die ich hier zusammen-
gestellt habe, sind zwischen 1970 und 1974 geschrieben wurden,
zu den verschiedensten Anlässen, an den verschiedenen Orten,
ob sie gut sind? fragst Du. Es sind Gedichte. Auch alle Fragen
machen weiter, wie alle Antworten weitermachen. Der Raum
macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes
Stück Papier.
 
R. D. B. 11./12. Juli 1974, Köln 

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