Über die Beschäftigung mit Rom- und Sinti-Literatur auch wieder auf die Jenischen gestoßen. Diese kleine Volksgruppe gehört nicht zu den Sinti und Roma. Sie ist wahrscheinlich in der frühen Neuzeit, nach dem 30jährigen Krieg, entstanden: Ehemalige Soldaten, Vertriebene, Diskriminierte, Arme, Hungernde begaben sich auf Wanderschaft und verdienten ihren Lebensunterhalt als Scherenschleifer, Schrotthändler, Hausierer, Schausteller, Musikanten, Korb(möbel)macher. Während des Dritten Reichs wurden sie als "Asoziale" stark diskriminiert bis verfolgt, allerdings nicht systematisch. Aber es wurden viele in KZs ermordet. Bis in die 70er Jahre wurden den Familien der Jenischen in der Schweiz die Kinder weggenommen. Der Staat übernahm aber in den 80er Jahren die Verantwortung und erkannte die Jenischen als "nationale Minderheit" an. Bislang ist kein europäischer Staat diesem Beispiel gefolgt (soweit H. das weiß). Die meisten Jenischen in Deutschland leben in Singen am Hohentwiel, etwa 800.
Simone Schönett, selbst Jenische, veröffentlichte 2001 ihren ersten Roman.
Aus einer Inhaltsangabe (Quelle Jenisches Diskussions- und Info-Forum):"... Es ist Weihnachten. Die Großfamilie hat sich versammelt. Alle sind da.
Dreizehn Personen sitzen um den gedeckten Tisch; warten darauf, dass die
Kerzen auf dem Christbaum angezündet werden. Alles in einem etwas
chaotischen Durcheinander. So sind sie eben: alle ein wenig verrückt;
aber jeder eine Persönlichkeit. Ein jeder hat seine Eigenheiten, auch
seinen Dickkopf. Und jeder und jede hat seine/ihre Geschichte. Und alle
Geschichten zusammen ergeben die Familiengeschichte, die sich
überschaubar über die letzten hundert Jahre erstreckt. Ein
Familienstammbaum mit weit verzweigten Ästen und tiefen Wurzeln ist
aufgezeichnet in diesem Buch. Man weiß nicht immer genau - vor allem am
Anfang - wer nun wirklich wer ist. Die vielen Namen und
Verwandtschaftsgrade sowie Zugehörigkeiten purzeln durcheinander, bis
sie sich im Lauf der erzählten Geschichten klären. Hauptpersonen gibt es
und Nebenakteure, auch Gatschi, die in die Familie eingeheiratet haben,
wie der Mann von Jana, Pawel, der Kärntner-Slowene, der aber kein
Slowenisch mehr kann, dafür aber ein Schriftsteller ist oder ein solcher
werden will. Janas Bruder, Igor, wiederum ist musikalisch talentiert,
er hat sogar die Musikschule abgeschlossen und gibt Unterricht. Er taugt
aber - ebenso wie Jana - nicht zum Hausieren, hat nicht das Talent, an
fremde Türen zu klopfen und fremden Leuten was aufzuschwätzen, ihnen die
Ware anzudrehen. Jana selbst hat sich nach Reisen und Aufenthalten in
anderen Ländern und einigem Herumprobieren - auch bei Männern - der
Malerei zugewandt und in Pawel einen fixen Partner und mit dem
gemeinsamen Kind Nana einen Ruhepunkt in ihrem unruhigen Leben gefunden.
Die Unruhe ist es überhaupt, welche diese Personen treibt - in
Abenteuer, in Liebschaften, ins Anderssein; so als würde diese Unruhe
und dieses In-Bewegung-sein eben zum Jenischen gehören, als
Wesensmerkmal und Charakterzug aufgrund einer Jahrhunderte langen
Prägung.
Alle haben sie aber nun doch in den einfachen,
selbstgebauten Häusern, die nahe beisammen auf dem moosigen Grund
stehen, den der Großvater von Josefine, also der Ur-Ur-Großvater von
Jana mütterlicherseits, um 1900 beim Kartenspielen gewonnen hat, ein
Zuhause, so etwas wie eine Heimat gefunden; eine Heimat unter sich. Die
einen leben dort, Generationen übergreifend in der Familiengemeinschaft,
die anderen, die auswärts arbeiten oder anderswohin gezogen sind,
kehren immer wieder dorthin zurück, wo ihre Wurzeln liegen: im Moos.
Alle haben sie eine enge Verbindung zueinander, auch wenn es oft
turbulent und chaotisch zugeht, der eine schweigsam ist, die andere
etwas hysterisch. Alle kennen einander und wissen, wie sie miteinander
umzugehen haben. Denn das richtet sich nach so etwas wie einem Gesetz. ..."
Jedenfalls lesenswert. Und wer mehr über die Jenischen wissen will, findet gute und umfangreiche Informationen hier.
(H. erinnert sich, dass noch zu Beginn der 2000er Jahre ein etwa 50 Wohnwagen umfassender Konvoi sich in Neuaubing sammelte und gemeinsam auf Fahrt während der Sommerferien ging. Die Männer in schwarzen Hosen und weißen Hemden gekleidet.)
Und wie es der Zufall will: Heute war die Scherenschleiferin da. H.s haben seit über 20 Jahren eine Scherenschleiferin, die Messer, Gartengeräte oder den Rasenmäher abholt und nach einer Stunde wieder bringt. Ihr Mann hat hinten im Auto eine mobile Schleifwerkstatt. Die Scherenschleiferin ist teuer, sehr sogar. Aber es ist eine schöne, über viele Jahre gewachsene Beziehung mit ihr. Beide Seiten wissen einiges voneinander. Die heutige Neuigkeit: Sie ist seit zwei Monaten Oma, von der zweitältesten Tochter. Sie hat überhaupt nur Töchter, fünf an der Zahl. Die Enkelin ist wieder ein Mädel.
Mit Frau H. bei der Lieblingsfriseurin gewesen. Als H. am Anfang seines Lehrerdaseins in München eine 8. Klasse übernahm, war E. in einer 9. Klasse derselben Schule. Seitdem kennen und schätzen sie sich.
Gehört: Konzertabend mit dem Chicago Symphony Orchestra, Leitung Georg Solti
Bela Bartok: Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta
Franz Liszt: Eine Fausst-Symphonie (Siegfried Jerusalem, Tenor
Gelesen: H. liest immer wieder, oft auch nur ein Kapitelchen, aus Büchern der umfangreichen Hausbibliothek (in der etwa 200 Bände noch ungelesen sind). Heute aber versank er jedoch wieder "Im Moos" (s.o.).
Gegessen: Kalbsleber mit Kartoffelpürree, gebräunten Zwiebeln und gedünsteten Quitten. Dazu eine Avocado und ein Glaserl Wein.
Wenn es um jenische Literatur geht, kann ich Mariella Mehr empfehlen. Auch Venanz Nobel (der Fäberer), ein "Betonjenischer" (Sesshafter), mit dem ich allerdings vor Jahren einmal heftig aneinandergeraten bin.
AntwortenLöschenIn der Schweiz gibt es einen eigenen Seelsorger für die Jenischen - hier ein Interview:
AntwortenLöschenhttps://www.luzernerzeitung.ch/leben/christoph-albrecht-ist-der-seelsorger-fuer-die-jenischen-in-der-schweiz-ld.1244555
außerdem: www.ceferino.ch
Danke für die Hinweise.
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