H. hat sein 10jähriges Blogjubiläum links liegen lassen. Es war im Frühjahr 2010, als der erste Beitrag veröffentlicht wurde. Dann wurde der Blog zweimal gehackt und wirklich kaputt gemacht. Erst ab 2011 gibt es dann wieder Beiträge. Wer das war, tut nichts mehr zur Sache. H. schrieb damals viel über den Deutschen Schulpreis, die Auswahl der Schulen, wie H.s Schule immer höher rutschte, von gut 600 Bewerbern unter die 15 ersten, dann die Berlinfahrt, die Behandlung dort (das Wort "Hauptschule" kam den Moderatoren nicht über die Lippen, sie verschluckten sich förmlich daran). Das Essen war gut, die Unterbringung, man konnte sie sich selbst aussuchen, war ausgezeichnet. 2 Lehrerinnen, 2 Schülerinnen, die 2 Jugendbeamten, die Elternbeiratsvorsitzende und H. und Stellvertreterin waren vor Ort.
Vielleicht war es dann der folgende Beitrag, der Neider antrieb, den Blog zu zerstören. Jedenfalls war der Blog nach der Veröffentlichung des Artikels im Buch über den Schulpreis 2010 kaputt:
Deutscher Schulpreis 2010
Die Hauptschule an der Wiesentfelser Straße, München
Wir
befinden uns im Jahr 2010 n. Chr. Der Ruf der Hauptschule ist überall
ruiniert. Überall? Nein! Eine kleine Hauptschule in einer großen Stadt
in Bayern hört nicht auf, sich zur Wehr zu setzen.
Die Umgebung der Schule ist architektonisch reizarm, eher trist und
grau. Der Besucher ist gut beraten, wenn er sich bewusst macht, in
welcher Stadt er sich befindet – es könnte auch einer der vielen
Stadtteile in einer der vielen weniger wohlhabenden Städte Deutschlands
sein. Das Schulgebäude der Hauptschule Wiesentfelser Straße in München
Neuaubing ist äußerlich seiner Umgebung angepasst – mit etwas mehr Grün
drum herum. Im Inneren allerdings wird die karge Funktionalität
überraschend aufgebrochen durch gestaltete Wände, freundliche Farben und
eine ins Auge fallende Sauberkeit.
Was aber den architektonischen Eindruck von draußen wirklich
kontrastiert, ist die Atmosphäre der Schule. Wir sind in einer
Hauptschule in einem Stadtteil, in dem es außer Grundschulen nur Haupt-
und Sonderschulen gibt. Im Schulsprengel sind Deutsche eine Minderheit.
Die meisten Bewohner leben von Sozialhilfe und leiden unter einer
Perspektivlosigkeit, die sie oft an ihre Kinder weitergeben.
Diese Schule ist eine andere Welt. Den Besuchern begegnen freundliche,
aufgeschlossene, auskunftsbereite und auskunftsfähige Menschen,
Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Schule – Menschen, die sich, das spüren wir, offenbar
auch im Alltag mit Respekt begegnen. Die Schüler zeigen sich in den
Gesprächen selbstbewusst und sprachgewandt. Unsere Gesprächspartner
identifizieren sich mit ihrer Schule, die allen Klischees und dem
allgemeinen Ruf der deutschen Hauptschule widerspricht.
Die besonderen Lernanreize für Schülerinnen und Schüler
Wie schafft die Schule das? Im Leitbild steht als erster Satz: „Im
Mittelpunkt stehen unsere Schüler/-innen“ – wie in vielen Leitbildern
anderer Schulen auch. Hier wird dieser Satz aber alltäglich mit Leben
erfüllt. Ein Indiz: Der Rektor und die Konrektorin (und wohl die meisten
Lehrkräfte) kennen nicht nur die Namen aller (wirklich: aller!) ihrer
Schülerinnen und Schüler, sondern sie wissen auch richtig viel von
ihnen.
Ein
weiteres Indiz ist die ständig sichtbare Ermutigung der Schülerinnen
und Schüler und das Zutrauen, das ihnen entgegengebracht wird. Der
Schule gelingt es, eine Atmosphäre aufzubauen, die den Kindern und
Jugendlichen vieles geben kann, das sie zu Hause missen.
Erst auf diesem Fundament werden sie dann auch innerlich frei und
bereit, forschen, planen, untersuchen, entdecken und üben – also lernen –
zu können.
Zu der familiären Atmosphäre trägt auch das für 1.- € pro Woche
angebotene Frühstück in der Schule bei. Auch einige Schüler, die zu
Hause frühstücken könnten, ziehen das gemeinsame Frühstück mit ihren
Freunden in der Schule vor. Diese morgendliche Kontaktmöglichkeit nutzt
auch der Schulleiter regelmäßig. Eine Schule mit Schülern
unterschiedlicher Leistungsvoraussetzungen, oftmals demotiviert und
desinteressiert aufgrund negativer Erfahrungen aus der Grundschule,
häufig abgestempelt als Loser, eine solche Schule muss schon
Außergewöhnliches aufbieten, wenn seit einigen Jahren 40% ihrer Schüler
in Ausbildungsberufe vermittelt werden, ein hoher Prozentsatz
weiterführende Schulen besucht und nur wenige der größeren Chancen wegen
die 9. Klasse wiederholen. Kein Schüler beendet vorzeitig oder ohne
Abschluss seine Schulzeit, auch die Schülerinnen und Schüler mit
sonderpädagogischem Förderbedarf erreichen den Hauptschulabschluss. Die
Schule weiß, dass die Schüler der Abschlussklassen gute Leistungen und
Ausbildungsreife mitbringen müssen, um Aussicht auf Ausbildungsplätze zu
haben, und sie investiert viel dafür.
Dazu gehört auch, dass im Jahrgang 5 und 6 ein besonderes Augenmerk
darauf gelegt wird, die Schüler nach ihren häufig frustrierenden
Erfahrungen in der Grundschule aufzufangen und ihnen wieder
Leistungsfreude und Zuversicht zu vermitteln. Deshalb gibt es in dieser
Zeit viel Projektarbeit und zahlreiche kreative Kurse Die Schule hat
dafür Künstler, Handwerker und Musiker gewonnen. Dass das Konzept
aufgeht, zeigen die begeisterten Berichte von Schülern und Eltern, die
von neuem Zutrauen und wieder entdeckter Freude am Lernen sprechen und
erzählen, dass es mitunter den Geschwistern, die eine andere
weiterführende Schule besuchen, wesentlich schlechter geht. Das ist es
wohl, was die Schule auszeichnet: der konsequente und unbedingte Einsatz
für die Schülerinnen und Schüler, den die Schulleitung täglich
überzeugend vorlebt und das Kollegium sich zu eigen gemacht hat.
Das
Kollegium der Hauptschule an der Wiesentfelser Straße legt einen
besonderen Schwerpunkt darauf, dass die Absolventen die Schule mit
möglichst guten Chancen für „das Leben danach“ verlassen. Dazu gehört
die intensive Förderung ihrer Sprech- und Lesekompetenz. Die
Schülerfirma „Die Vorleser“ ist eine Initiative, die dieses Ziel
verfolgt, indem sie Lesen zur gefragten Leistung in einen
lebensdienlichen Kontext macht: Schülerinnen und Schüler von der 5. bis
zur 9. Klasse treffen sichwöchentlich und üben, Geschichten und Gedichte
vorzutragen. Die Vorleser werden dann von Altenheimen, Schulen,
Kindergärten und anderen Einrichtungen gebucht und lesen dort gegen ein
kleines Honorar selbst ausgesuchte oder auch bestellte Texte. Über die
Verwendung der dabei erzielten Einnahmen bestimmen am Schuljahresende
die Mitglieder der Schülerfirma.
Ein besonders beeindruckendes Beispiel der Firma „Die Vorleser“ ist eine
Schülerin der 9. Klasse, die einmal wöchentlich auf einer geriatrischen
Station vor demenzkranken alten Menschen liest. Beinahe
selbstverständlich ist, dass der Schulleiter sich um eine Supervision
für diese Schülerin bemüht und sie bei dieser herausfordernden Aufgabe
persönlich begleitet.
Zwei weitere Schülerfirmen komplettieren das „Angebot“ der Schule: die
Schülerzeitung „Wiesen’Mix“ und die Schulkleidungsfirma „Wies’n
-T-shirt“. In allen drei Schülerfirmen erlernen die Schülerinnen und
Schüler Öffentlichkeitsarbeit, Vermarktung und Abrechnungsformen. Alle
Firmen erwirtschaften Gewinne. Dabei achtet die Schule darauf, dass die
betreuenden Lehrkräfte sich wirklich im Hintergrund halten. Die Schüler
sollen ihre eigenen Ideen, entwickeln, sie sollen ihre eigenen
Erfahrungen machen und diese auch an andere Schüler weitergeben.Leben nach der Schule
Zahlreiche Kooperationspartner unterstützen die Schule dabei, die „Motivation“ – den eigenen Lern- und Leistungswillen – der Schüler zu stärken. Für die Forderung der Lesekompetenz hat die Schule 25 ehrenamtlich arbeitende Menschen gefunden, die als „Lesepaten“ einzelne Schüler oder Kleingruppen betreuen und mit unterschiedlichen Angeboten die Lesekompetenz stärken. Beim Projekt „Vorbilder“ kommen junge Migranten in die Schule, die es direkt oder auch auf Umwegen beruflich geschafft haben und nun wichtige, Mut machende Erfahrungen und Informationen weitergeben können. Das Projekt „Sprungbrett“ besteht aus ehrenamtlichen Berufspaten und Wirtschaftsjunioren der Stadt München, die die Schüler des 8. und 9. Jahrgangs bei Arbeitsamtsbesuchen, Bewerbungen, bei der Suche nach Praktikumsstellen oder bei Vorstellungsgesprächen unterstützen.
Erfahrungen mit Lernpartnern
Überhaupt
die Kooperationspartner! Die Schule hat es geschafft, nicht weniger als
23 Kooperationspartner – Firmen, Vereine, Personen, Behörden – an sich
zu binden, die die Arbeit des Kollegiums ergänzen, unterstützen und
erweitern.
In einer Gesprächsrunde mit Vertretern von einigen dieser Partner wird
deutlich, dass eine so gute Zusammenarbeit mit einer Schule durchaus
nicht verbreitet ist. Im Unterschied zu anderen Schulen zeigt die
Hauptschule Wiesentfelser Straße eine hohe Kooperationsbereitschaft; der
Kontakt wird intensiv gepflegt und keineswegs nur „konsumiert“. Bei
aller Unterstützung lässt sich die Schule das Heft des pädagogischen
Handelns nicht aus der Hand nehmen. Sie wählt sehr wohl aus, wer ins
Haus kommt und wer nicht. Das Kriterium ist: Was hilft unseren Schülern
wirklich weiter?
Bemerkenswert sind Leistung und Engagement Einzelner. So setzt sich die
Elternbeiratsvorsitzende, hoch identifiziert mit „ihrer“ Schule und
voller Eifer, im Stadtteil unermüdlich für die Einbindung der Eltern mit
Migrationshintergrund in das Schulleben ein. Sie ist zu Recht stolz auf
das Erreichte.
Schon rein physisch eine imponierende Erscheinung – auch ohne Uniform –
ist der Jugendpolizist des Stadtteils, der zwar für viele Schulen
zuständig ist, doch in der Wiesentfelser Straße ein besonderes
Engagement zeigt, ein gutes Verhältnis zu Eltern und Schülern hat und
durch enge Zusammenarbeit mit Schulleitung und dem Kollegium gut
informiert ist. Er genießt das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler,
die sich an ihn wenden, nicht nur wenn sie „Mist gebaut“ haben; auch
sonst, so dass er praktisch gesehen die Funktion eines Sozialarbeiters
mit erfüllt. Er ist sich sehr wohl bewusst, dass dieses gute Verhältnis
durchaus auch ein Verdienst der Schulleitung und des Kollegiums ist.
Zu einem richtigen Besuch dieser Schule gehört es unbedingt, in den
Schulkeller hinabzusteigen. Hier wird man von rhythmischen Klängen
einiger Schlagzeuge empfangen, die sich zu einer für Musikschulen
typischen, zugleich strukturierten und chaotischen Übungskulisse
aufschichten. Mutmaßend, dass hier eine Musikschule mit einem besonderen
Angebot für die Schülerinnen und Schüler tätig geworden ist, muss der
Besucher sich belehren lassen, dass es der Hausmeister ist, der hier
kostenlos Schlagzeugunterricht erteilt und mit den Schülern
gewissermaßen gemeinsam auf die Pauke haut. Ein echter Hausmeister aus
Fleisch und Blut, der den Hausmeister- Mythos glatt überbietet.
Die lernende Schule
Eine große Aufgabe sieht die Schule in der Planung und Gestaltung
unterschiedlicher Unterrichtsformen, die den Fähigkeiten und
Möglichkeiten und den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen aller
Schülerinnen und Schüler noch besser als bisher gerecht zu werden
vermögen. Die Schule hat in wenigen Jahren in diesem schwierigen
Wohngebiet Außergewöhnliches geleistet und umgesetzt. Man darf erwarten,
dass sie auch weitere Entwicklungsschritte ebenso eindrucksvoll gehen
wird.
Interview mit der Schulleitung, Frau Zeitler (stellv. Schulleiterin) und Herrn Walther (Schulleiter)
Von wem/wodurch hat die Schulleitung am meisten gelernt?
„Die Schulleitung und mit ihr das gesamte Kollegium hat in zwei
Angeboten am meisten gelernt: Bei Dr. Richard Sigel von der LMU im
Bereich der systematischen Schulentwicklung, Hier haben wir intensive
Fortbildung zu den Themen Leitbild und Schulprogramm,
Personalentwicklung, Teamentwicklung, Projektmanagement und
Unterrichtsentwicklung erhalten. Die Fortbildungen der Hertie-Stiftung.
Hier war uns der Austausch mit anderen Schulen, die Vorstellung
unterschiedlicher Projekte und die Art und Weise der Problembewältigung
anderer Schulen wichtig.“
Welche Fragen/welche Herausforderungen haben Ihre Schule am meisten vorangebracht? Welche Fragen stellt sich die Schule heute?
„Die spezielle Situation im Sprengel mit einem Ausländeranteil von 80 %,
von denen 90 % aus der Türkei kommen. Das Bewusstsein, alles allein
schultern zu müssen, da es durch die Behörden und die
Schuladministration kaum Unterstützung – eher Behinderungen – gibt. So
haben wir kein Mitspracherecht bei Personalentscheidungen und verlieren
heuer eine gute Lehrerin mit Montessoridiplom, die wir für unser
zukünftiges Vorhaben, der Weiterentwicklung von Unterricht, so gut in
unseren Reihen gebraucht hätten. Wie sichern wir das bisher Erreichte,
hat es Bestand in den neu zu bildenden Schulverbünden? Oder gehen wir da
mit unseren Vorhaben unter?
Wie können wir unter den jetzigen Bedingungen Unterricht entwickeln?“
Ergänzen Sie den Satz: Unsere Schule wird ganz besonders geprägt durch…
„… ein erfahrenes, lernwilliges Kollegium, welches junge Kolleginnen und
Kollegen an die Hand nimmt und führt. Diese Mentorenschaft entwickelt
sich von allein. Wir wissen nicht, wie es passiert – es passiert aber
zuverlässig und muss nicht geplant werden. Wir glauben, dass es mit der
Offenheit und Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen für andere
Menschen zusammenhängt.“
Thomas Oertel
aus: Peter Fauser, Manfred Prenzel, Michael Schratz: Was für Schulen!
Individualität und Vielfalt – Wege zur Schulqualität. Klett/Kallmeyer
2010
Gehört: Frédéric Chopin: Sonate h-Moll, op. 58, Ingolf Wunder, Klavier
Gegessen: Ja natürlich, was Gutes.
Gäbe es doch viel, viel mehr solcher Schulen!
AntwortenLöschenSchon bei der Bemerkung, dass alle Kinder mit Namen und Hintergrund gekannt werden, wird klar, dass grundsätzliche Voraussetzungen für gute Atmosphäre, Gemeinschaft und damit gedeihliche Entwicklung gegeben sind. Die vielfältigen unterschiedlichen Angebote und Kooperationen bieten den Schülern je nach Interessenlage die Möglichkeit, das in ihnen steckende, schlummernde Leistungsvermögen ans Licht zu bringen. Und das so wichtige Selbstwertgefühl steigt, was weiter anspornt. Das nenne ich Förderung.
Großartig!
Danke.
LöschenEs ging noch weiter. Vielleicht bei Gelegenheit. H. will aber nicht angeben damit, das ist das Problem.
Ich bin auf ein Gymnasium gegangen, aber eines mit einem schlechten Ruf. Im Nachhinein bin ich dankbar für die "innere Freiheit", die auch im Text erwähnt wird und die man mir dort gegeben hat.
AntwortenLöschenDas ehrt Sie zwar, lieber Herr H. Aber andererseits ist es so wichtig, Erfahrungen und Anregungen weiter zu geben. Nun ja, Sie tun das ja, soweit ich es hier lesen kann. Leider gibt es ja immer noch Lehrer*innen, die sich keinen Deut um die Lebenswirklichkeit ihrer Schüler scheren. Was eine wichtiger Punkt bei der Ausbildung derselben wäre.
AntwortenLöschenMir ist in dem Text neben allem anderen noch besonders positiv aufgefallen, wie gut auch nicht pädagogisches Potenzial eingebunden worden ist und die Schüler allein schon daraus die Wertigkeit jedes einzelnen (Polizei, Hausmeister usw.) kennen lernten. Eine Erfahrung, die nicht hoch genug zu schätzen ist und das Funktionieren von Gesellschaft deutlich macht.