Am 1. November hätte Ilse Aichinger ihren hundertsten Geburtstag gefeiert.
Die Schriftstellerin der Nachkriegszeit wird heute kaum mehr gelesen, trotzdem brachte der Fischer-Verlag ihre Werkausgabe heraus. Die Umschläge dazu gestaltete Otl Aicher, der auch Gestaltungsbeauftragter der Olympischen Spiele von 1972 war.
1952 gewann sie den Preis der Gruppe 47 bei deren Tagung in Niendorf an der Ostsee. Ein Jahr später heiratete sie Günter Eich.
Hier eine Würdigung des DLF Kultur.
Der Anfang einer Kurzgeschichte:
"Ilse Aichinger: Wo ich wohne
Ich wohne seit gestern einen Stock tiefer. Ich will es nicht laut sagen,aber ich wohne tiefer. Ich will es deshalb nicht laut sagen, weil ich nicht übersiedelt bin. Ich kam gestern abend aus dem Konzert nach Hause, wie gewöhnlich samstagabends, und ging die Treppe hinauf, nachdem ich vorher das Tor aufgesperrt und auf den Lichtknopf gedrückt hatte. Ich ging ahnungslos die Treppe hinauf — der Lift ist seit dem Krieg nicht in Betrieb —, und als ich im dritten Stock angelangt war, dachte ich: >Ich wollte, ich wäre schon hier und lehnte mich für einen Augenblick an die Wand neben der Lifttür. Gewöhnlich überfällt mich im dritten Stock eine Art von Erschöpfung, die manchmal so weit führt, daß ich denke, ich müßte schon vier Treppen gegangen sein.
Aber das dachte ich diesmal nicht, ich wußte, daß ich noch ein Stockwerk über mir hatte. Ich öffnete deshalb die Augen wieder, um die letzte Treppe hinaufzugehen, und sah in
demselben Augenblick mein Namensschild an der Tür links vom Lift.
Hatte ich mich doch geirrt und war schon vier Treppen gegangen? Ich wollte auf die Tafel schauen, die das Stockwerk bezeichnete, aber gerade da ging das Licht aus. Da der Lichtknopf auf der anderen Seite des Flurs ist, ging ich die zwei Schritte bis zu meiner Tür im Dunkeln und sperrte auf. Bis zu meiner Tür? Aber welche Tür sollte es denn sein, wenn mein Name daran stand? Ich mußte eben doch schon vier Treppen gegangen sein. Die Tür öffnete sich auch gleich ohne Widerstand, ich fand den Schalter und stand in dem erleuchteten Vorzimmer, in meinem Vorzimmer, und alles war wie sonst: die roten Tapeten, die
ich längst hatte wechseln wollen, und die Bank, die daran gerückt war, und links der Gang zur Küche. Alles war wie sonst. In der Küche lag das Brot, das ich zum Abendessen nicht mehr gegessen hatte, noch in der Brotdose.
Es war alles unverändert. Ich schnitt ein Stück Brot ab und begann zu essen, erinnerte mich aber plötzlich, daß ich die Tür zum Flur nicht geschlossen hatte, als ich hereingekommen war, und ging ins Vorzimmer zurück, um sie zu schließen.
Dabei sah ich in dem Licht, das aus dem Vorzimmer auf den Flur fiel, die Tafel, die das Stockwerk bezeichnete. Dort stand: Dritter Stock. Ich lief hinaus, drückte auf den Lichtknopf und las es noch einmal. Dann las ich die Namensschilder auf den übrigen Türen. Es waren die Namen der Leute, die bisher unter mir gewohnt hatten. Ich wollte dann die Stiegen hinaufgehen, um mich zu überzeugen, wer nun neben den Leuten wohnte, die bisher neben mir gewohnt hatten, ob nun wirklich der Arzt, der bisher unter mir gewohnt hatte, über mir wohnte, fühlte mich aber plötzlich so schwach, daß ich zu Bett gehen mußte. Seither liege ich wach und denke darüber nach, was morgen werden soll. Von Zeit zu Zeit bin ich immer noch verlockt, aufzustehen und hinaufzugehen und mir Gewißheit zu verschaffen. Aber ich fühle mich zu schwach, und es könnte auch sein, daß von dem Licht im Flur da oben einer erwachte und herauskäme und mich fragte: »Was suchen Sie hier?« Und diese Frage, von einem meiner bisherigen Nachbarn gestellt, fürchte ich so sehr, daß ich lieber liegen bleibe, obwohl ich weiß, daß es bei Tageslicht noch schwerer sein wird, hinaufzugehen ..."
Die Protagonistin endet in einer Kellerwohnung.
Ilse Aichinger ist eine herausragende Dichterin der Nachkriegs- und späteren Zeit. Die Lektüre ihrer Werke ist sehr zu empfehlen und sie sind weit besser als die Ergüsse, die sich manche zeitgenössischen Autor:innen abquälen.
Danke, kannte ich noch nicht, aber sehr interessant: Von Dino Buzzati (dne ich ansonsten nicht kenne) gibt es eine unheimliche, auch etwas unwirkliche Kurzgeschichte, "Das Haus mit den sieben Stockwerken" um einen Patienten im Krankenhaus, der im obersten Stock beginnt und nach und nach immer weiter herunter zu den schwereren Fällen gelegt wird, immer nur temporär, nur kurz, nur zeitweise... bis er ganz unten ankommt.
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